carsten werners

Posts Tagged ‘Verflüssigungen’

Hallo Nachbarn, Dankeschön!

In Ideenwirtschaft, Stadt on 9. Mai 2015 at 17:47

Sönke Busch for Nachtbürgermeister!

Vor vier Jahren habe ich als ganz frisch gebackener Abgeordneter (und frisch wiederaufgebackener Viertelbewohner) mit einigen Nachbarn, aufgelösten Passanten, verunsicherten PolizistInnen, durchgeknallten Randalierern und deeskalierenden Jugendlichen mehrere Nächte – nach der Breminale​ und dem „Viertelfest“ – an der Sielwallkreuzung verbracht und wir waren sehr, sehr unsicher und ratlos, wie man der Dynamik aus Partylust und Alkohol, Radau und Randale, Musik und auch Gewalt begegnen kann oder sollte, die sich da Bahn brach.

2 Nächte vor dem Ende dieser Wahlperiode haben das Viertel und seine Besucher jetzt ein Zeichen gesetzt, dass das und vielleicht auch wie das gehen könnte: Mit etwas weniger Halligalli, mit etwas weniger Alkohol, mit Spaß UND Verantwortung, mit kreativen UND kommerziellen Anliegen – in vielen Schattierungen, mit viel Auseinandersetzung und Diskussion, mit viel Verantwortungsbewusstsein, bestimmt auch mit etwas Glück.

Ich habe noch nicht wirklich verstanden, was da in der vergangenen Nacht passiert ist und zu erleben war: An Ruhe UND Amüsierbedürfnis. War das eine Demo? Ein Go-In, ein unplugged-Fest? Selten waren die Wohnstraßen so ruhig – weil es kaum noch Verkehr gab. Selten war das Gegröle so wenige bedrohlich. Selten war der Dreck so schnell (fast) wieder weg. Es gab wenige und um so wichtigere Szenen und Bilder:

• Die vorsichtige temporäre „Aneignung“ des Straßenraums.

• Die sensible Bereitschaft und entspannte Haltung der Polizei.

• Das konsequente „Musik nur drinnen“-Konzept.

• Der offene, freie, leere, nur von Menschen bevölkerte Straßenraum ohne Bühnen-Buden-Banner-Trara – ein „autofreier StadTraum“ ;-)

• Die großen Haufen NICHT geworfener, sondern sorgfältig am Straßenrand abgelegter Flaschen.

• und, für mich die Szene und das Bild dieser Nacht, genau wie ich es mir erwünscht und erhofft hatte: Die die Sielwallkreuzung fegenden Wirte und Veranstalter – hier aufgenommen von Andrea Bischoff von der veranstaltenden Initiative „Kulturschutzgebiet“:

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Apropos „Kulturschutzgebiet“: Der „Erhalt der kulturellen Vielfalt“ entscheidet sich sicher nicht im Bremer Viertel. Ich glaube auch nicht, dass dieser Kulturbegriff (der nur einer von ganz vielen und nur ein ausschnitthafter ist) sich von der Kommerzialität des Viertels wirklich trennen lässt. Deshalb geht es meiner Meinung nach auch weniger um „Schutz“ und Unterschutzstellung, als um eine Verständigung der Bewohner und Nutzer dieses Stadtquartiers. Die vergangene Nacht hat gezeigt, was eigentlich jeder weiß: dass die Kulturbegriffe sehr weit gefasst sind, dass vielleicht auch jeder seinen eigenen hat – dass man das auch niemandem vorschreiben kann und sollte, was wessen Kultur zu sein hat. Und dass man sich seine Gäste im öffentlichen Raum nicht aussuchen und in Gute und Böse, Angenehme und Unerwünschte sortieren kann, versteht sich von selbst, oder? (Anders lesbare Äußerungen würde ich gerne dem Hype und der Nervosität um das unkontrolliert anschwellende Event zuschreiben – ernstgenommen wären sie kulturell grenzwertig und ökonomisch bigott …)

Natürlich ging es vielen der Besucher nicht um die einzelnen Musikevents – wahrscheinlich zum Glück; denn dann hätten die geringen Zuschauerkapazitäten in den Locations für böse Enttäuschung gesorgt. Aber ist das schlimm? Ich glaube, es hat sich gezeigt, dass weniger Musik open air, weniger Alkohol open air und weniger Aufregung, angestrengte Ambition und hyperventilierte Erwartung bei Veranstaltern, Polizei und Stadtteilpolitik eben auch deeskalierend wirken können.

Also was war das jetzt? glückliche Fügung, weil alles gut gegangen ist? Vielleicht haben klare, ehrliche Interessen eine wichtige Rolle gespielt. Denn was gesagt wird, kann man einschätzen. Und das ist Arbeit. Da kann der riesengroße Rest der Kulturszene viel von abgucken!

Sönke Busch hat über Wochen immer wieder die Diversität und Hybridität des Viertels, des Stadtlebens überhaupt und der Stadt- und Viertel-Nutzungen empathisch und genau herausgearbeitet, beschrieben und erlebbar gemacht. Ich habe in den vergangenen Wochen ja immer wieder vorgeschlagen, das Modell des Amsterdamer „Nachtbürgermeisters“ auf Bremen zu übertragen. Das wäre natürlich keine neue Behörde, kein neues Amt, sondern ein Partyversteher, Szenesprecher, Quartiersvermittler, Behördenberater. Die Viertel-Gastronomen sind dafür vor ihren eigenen Häusern schon ein gutes Beispiel. Heute Morgen dachte ich: Ist Sönke nicht schon längst unser Viertel-Nachtbürgermeister?!

Ich weiß nicht, ob das ein wiederholbares und wiederholenswertes Event war? Das „neue Viertelfest“? Eher nicht. Aber auf jeden Fall war es ein tolles, verstörendes, letztlich ruhiges Zeichen – für Diskurs, für Nachdenken und Reden. Denn das Viertel muss seinen Weg finden. Dafür gibts keine Gesetze. (Warum dabei Flaschen fliegen müssen und warum Idioten dazu Böller brauchen, werde ich persönlich nie verstehen. Selbst der Reiz der Masse überträgt sich so gar nicht auf mich selbst.) –  Aber die Diskurslust und die Diskursfähigkeit der Kneipenszene, der Musikszene und der Viertelbewohner – die lassen mich den Wahlkampf und meine erste Legislaturperiode als Bürgerschaftsabgeordneter mit einem dicken DANKE beenden an diese Stadt und alle ihre Viertel und Quartiere, die miteinander reden und streiten, die miteinander Wege suchen und auch mal mutig und innovativ ausprobieren.

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Ich bewerbe mich.

In Ideenwirtschaft, Politik on 2. Mai 2015 at 10:21

Am 10. Mai 2015 sind in Bremen Bürgerschaftswahlen. Ich bewerbe mich für die Grünen erneut um ein Mandat. Um die Entscheidung zu erleichtern, ob 5 (oder 4,3,2,1) Stimme(n) bei mir gut aufgehoben wären – oder doch lieber bei den Grünen insgesamt oder bei jemand anderem, habe ich hier ein paar wesentliche Aspekte meiner politischen Haltung und Arbeit, ein paar Puzzleteile des Riesenpuzzles Bremen zusammengetragen.

Mehr dazu findet sich in meinem Blog hier – oder beantworte ich gerne, wenn ich gefragt werde.

Wählbar bin ich als Kandidat Nr. 10 der Liste 2. Ganz klar Grün.

Stadt ist Entwicklung. Stadt ist KonfliktNutzungskonflikt, Interessenkollision, Clash der Kulturen. Bremen ist grün – und laut, wie jede Stadt. Bremen ist lebendig und vielfältig – und dreckig und eng, wie jede Stadt. Das Bremer Stadtleben hat viele Vorzüge: Kultur, eine tolle Nahversorgung, soziale und gesundheitliche Versorgung, lebendige Quartiere und gute Nachbarschaften und öffentliche Räume für alle BürgerInnen. Diese Vorzüge muss jede/r gegen die Vorzüge eines Lebens in reinen Wohnquartieren oder ländlichen Gemeinden abwägen. Ich setze mich mit den Grünen dafür ein, dass der Maßsstab des Stadtlebens der Mensch als wichtigste Einheit fürs Bauen, für den Verkehr, für die Wirtschaft und für alle sozialen und kulturellen Belange bleibt. Qualitäten lassen sich nicht allein mit Kennzahlen, Rankings und Strichlisten schaffen und beurteilen. Ein bisschen Streit kann dabei nicht schaden – wenn wir uns im Ziel einig sind: Bremen als sozialer, fairer, toleranter, lebenswerter Lebensraum. Offen für alle und offen für Neues.

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Digitalisierung ist. Globalisierung und Digitalisierung prägen Mobilität und Migration, Kultur und Handel, Wissen, Medien und Politik. Das müssen wir wissen, bedenken und politisch steuern: die digitale Revolution. Nicht, um virtuell zu leben – sondern um wach ihre Chancen zu ergreifen.

Kultur ist Respekt. Kunst ist Freiheit und die Kunst muss frei sein. Kulturpolitik muss sich neben der Förderung der Kunst auch der Entwicklung des Kultur- und Stadtlebens, kultureller Bildung, Medien und kultureller Wirtschaft widmen. Bremen braucht eine verlässliche Projektförderung – damit auch Experimente und Neues eine Chance haben. Kulturpolitik trägt Verantwortung für die Räume und das Bild der Stadt, künstlerische Visionen und neue Kulturtechniken.  Kulturentwicklung ist Stadtentwicklung.

Die Wirtschaft sind wir. Die Handelskammer ist nicht der natürliche und automatische dritte Koalitionspartner jeder Bremer Landesregierung – und sie vertritt längst nicht alle, die in Bremen Wirtschaft sind. Ich bin gegen Zwangsmitgliedschaften. Ich setze mich für kleine und kleinste Unternehmen ein, für GründerInnen und Selbstständige, für Freiberufler, für Genossenschaften, für Kultur, Gastronomie und Einzelhandel – für Menschen mit neuen Ideen, mit Mut zum Experiment, mit Lust zur Konkurrenz und auch zum Streit, mit Hinweisen für Staat und Politik, was anders laufen kann. Ich möchte innovative Träger sozialer, kultureller und ökologischer Aufgaben unterstützen. Eine gemeinwohlorientierte Wirtschaft ist für den Wohnungsbau, für lebendige Quartiere, für gute Nachbarschaften Gold wert – und Geld wert: Besondere Leistungen brauchen besondere Wertschätzung. Die Gemeinwohlökonomie verdient besondere Aufmerksamkeit und passende Regeln. So können Projekte und Unternehmen Vorreiter für Politik und etablierte Wirtschaft werden, wenn sie sich gesellschaftlichen Veränderungen stellen. Bremen ist erneuerbar.
Auch wenn sich Behörden und Institutionen – und  SPD, CDU und Linkspartei – damit oft schwer tun.

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Zeit zum Teilen. Familie ist zusammen Leben. Egal, welchen Geschlechts und egal in welcher Konstellation und Zahl: Familie ist Verantwortung füreinander. Deshalb bin ich für Kinder- und Familienförderung statt Ehe-Subventionen. Menschen müssen entscheiden können, in welchen Lebensphasen sie Zeit für die Familie brauchen – und wann neben dem Erwerbsleben auch Zeit für Ruhe und Muße, zur eigenen Orientierung ist. Lebenslanges Lernen ist wichtig für Medien- und Konsum-Kompetenz. Digitalisierung und Automatisierung bieten die Chance, dass Menschen arbeiten, um ihr Leben selbst zu gestalten – nicht bloß leben, um zu arbeiten. Darum bin ich für die individuelle Gestaltung individueller Arbeitszeiten und Lebensphasen.

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Gern geschehen!
Nach über 20 Jahren Kultur- und Medienarbeit in Bremen und Berlin sitze ich seit 2011 für die Grünen im Bremer Parlament, zuständig für Bau und Stadtentwicklung, Kultur- und Medienpolitik. Das Riesenpuzzle Bremen erschließt sich mir als ein komplexes Geflecht aus Interessen, Anliegen, Bedürfnissen und Ideen. Ich möchte weiter helfen, die zusammenzubringen – aus allen Stadtteilen und Quartieren. Politik ist ja kein „Wünsch Dir was“: Wir arbeiten auch für alle, die nicht laut ihr Anliegen einfordern. Dabei muss auch Neues Platz und Stimme finden.

Ich bin‘s:
Ich bin im Viertel und in der Neustadt zuhause und lebe hier mit meiner Frau und meiner kleinen Tochter. Nach dem Abschied aus dem kulturellen Schaffen steht demnächst vielleicht die Gründung einer kleinen Ideen- Agentur mit Buchladen, Kaffee und Kuchen an.

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Darf‘s ein bisschen mehr sein?
Nicht für alle Ideen gibt‘s schon Mehrheiten. Aber: Lasst uns weiter über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachdenken und über fahrscheinlosen, abgabefinanzierten öffentlichen Nahverkehr diskutieren! Lasst uns Logistik und Lieferverkehre der Stadt neu denken, autofreie Quartiere erproben! Ich bin neugierig auf die Innovationskraft privater Schulen, der Kulturwirtschaft und neuer, internationaler MitbürgerInnen in Bremen. Ein freies Internet kann keins der Wirtschaft sein. Die Welt verändert sich rasant. Es wäre dumm, nicht mit nachzudenken, wie das gehen soll. Ganz klar grün.

Fragen? Fragen!
An Ihrer Haustür klingele ich nicht. Wenn Sie mehr von mir wissen wollen – hier freue mich auf Ihre Fragen und Ideen:
www.abgeordnetenwatch.de/profile/carsten-werner
www.facebook.de/cwerg
www.twitter.de/cwergHB
carsten.werner@gruene-bremen.de
www.carstenwerner.de

Das gesamte grüne Wahlprogramm finden Sie hier.

Mehr … Grau wagen!

In Ideenwirtschaft, Kunst, Politik, Stadt on 27. März 2015 at 12:11

„Schlafstadt“ oder „Kulturstadt“ – wo ist der Widerspruch?

„Wohnen“ oder „Kultur“, „Bürger“ gegen „Feiern“, „Ruhe“ vs. „Leben“ – gar von „Krieg“, „Vertreibung“ und „Vernichtung“ war die Rede in den letzten Tagen: „bunt“ gegen „bieder“, live – aber leise. Braucht Kultur Wirtschaft – oder braucht Wirtschaft Kultur? Das „Viertel“ bebt. Das „Viertel“ lebt. Und andere Stadtteile wie die Neustadt seien auch „bedroht“. Nicht. Nein, ich meine: Wir brauchen auch in dieser spannenden Debatte etwas mehr Grau statt bösem Schwarz und strahlendem Weiß.

Ich halte das für Quatsch, dass „hier Wohn- & Lebensqualität“ und „da Kultur & Feierbedürfnis“ sich so widersprüchlich gegenüber gestellt werden. Zur Wohn- und Lebensqualität gehört Kultur. Zu den größten Schimpfern gegen Musik und Partylaune gehören auch Künstler, Kultur-Genießer und -Kunden – für die Ruhe und besonders Nachtruhe zu einem kulturvollen Leben dazugehören. Zu Recht. Und für die Partypeople gehört Dauerparty mindestens am Wochenende zu ihrer Kultur. Die Begriffe sind also unscharf geworden.

Der Rücksichtslosigkeit gegenüber Anwohnern wird von einzelnen Anwohnern mit Rücksichtslosigkeit begegnet: Sie klagen – nicht gegen grölende oder randalierende Passanten, nicht gegen röhrende Autos, sondern gegen Gastronomen und Veranstalter. Die wiederum sorgen zwischen diesen Fronten auf der Straße für Ruhe – und in manchem heiß- und vollgelaufenen Kopf für einen Ansatz an Bewusstsein für die städtische Umwelt und die Mitmenschen im Bett nebenan.

Dabei haben alle ein großes und gemeinsames Anliegen und Interesse: Ein lebendiges, quirliges, ein Stück weit unberechenbares, überraschendes „Viertel“ – auch für Gäste aus den anderen Stadtteilen.

Wäre das nicht so, würden sich die einen oder die anderen zurückziehen – den Schaden hätte das Quartier: Es würde nach und nach entweder zur Systemgastronomie-Meile – oder zur Schlafstadt.

Es muss wieder gelingen, das Zusammenleben von Kulturen positiv und nicht störend wahrzunehmen – was wir global postulieren, gilt auch im Quartier. Und Lärm und Dreck (und auch überbordender Kommerz ohne Verantwortung) müssen da identifiziert werden, wo sie entstehen und wo sie Lebensbedingungen, Zusammenleben stören.

Also einmal tief Luftholen, bitte! Der Ton macht die Musik.

“Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.“
Kurt Tucholsky

Und jetzt: Reden hilft!

Beschwerden und Klagen von Anwohnern treffen nun ausgerechnet die Lokale, die greifbar und identifizierbar sind, weil ihre Konzerte einen Anfang und ein Ende und eine messbare Lautstärke haben. Die Gastronomen und Veranstalter haben Adresse und Namen – sie sind schlicht ansprechbarer als der grölende Junggesellenabschied, randalierende Hooligans, röhrende PS-Protzer, frustrierte Parkplatzsucher oder nächtliche Toilettenvermisser (huch … hab ich hier vergessen zu gendern, oder haben die Phänomene eine bestimmte Genderspezifik? ;-) ) – und auch ansprechbarer als die Hierarchien der Systemgastronomie oder aus dem Boden schießende und wieder verschwindende Quickshops. Dieses Schicksal der (An-)Greifbarkeit für hörbares Lebensäußerungen und Kunst teilen sie übrigens mit den klassischen Kultureinrichtungen wie Theatern und Kinos, mit Kindertagesstätten und sogar mit Federvieh.

Kinder machen keinen Lärm. Kultur ist keine unzulässige Zumutung. Aber Stadt bedeutet Konflikt: Nutzungskonflikt, Schnittmenge, Begegnung Kollision, Clash. Sönke Busch hat dazu eine wundervolle Rede gehalten.

Dem Stress werden wir nicht mit immer mehr „Rechten“ begegnen können. Neue Grenz- und Messwerte, „Schutzgebiete“ und dergleichen fordern Zeit, Regeln, Kontolle – und werden immer wieder er- oder beklagt werden. Wir brauchen eine neue, erweiterte Kultur des Umgangs. Die Anwohner-Schutzmaßnahmen der Kneipiers und Veranstalter sind dafür ein sehr gutes Vorbild und ein guter Ausgangspunkt: Auf der Straße miteinander sprechen, für Wahrnehmung sorgen. Das heißt nicht: Security. Ich finde zum Beispiel die Idee eines von der Szene gemeinsam gewählten „Nachtbürgermeisters“ interessant, die in Amsterdam und Paris gut funktioniert. Berlin schickt neuerdings Pantomime auf die nächtlichen Straßen. Auch die in verschiedenen Bremer Quartieren ehrenamtlich das Nachtlebens begleitenden „Nachtwanderer“ könnten ein Ansatz sein, ein eigenes Modell fürs „Viertel“ aufzubauen. Vielleicht sind die kursierenden Ideen für „Kulturkioske“ an den alten Kiosk-Standorten am Ulrichsplatz oder am Ziegenmarkt eine weitere Diskussion wert.

Kultur sind auch Fernsehen und Disko, Internet und Fußballbundesliga, Essen und Trinken. Auch Stadtnatur und öffentliche Freiräume. Wir haben dafür einiges erreicht – die ZwischenZeitZentrale leistet einen großen Beitrag dazu in Bremen, ebenso wie verantwortungsvolle und kommunikationsbereite Quartiersgastronomen, das sozial motivierte „Zuckerwerk“ und Urban-Gardening-Projekte wie z.B. am Lucie-Flechtmann-Platz. Was der Streit und die Diskussionen offenbaren: Wir müssen für die Kulturstadt Bremen einstehen!

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Dabei müssen wir all das, was die Digitalisierung mit uns macht, in politische Überlegungen einbeziehen: Denn die Digitalisierung verändert nicht nur die Wirtschaft, den Einzelhandel, die Medienlandschaft und politische Beteiligung. Die selbstverständlich gewordene Digitalisierung definiert auch das Verhältnis von „Privat(heit)“ und „Öffentlich(keit)“ völlig neu. In unseren Veranstaltungen mit dem Stadtarchitekten Jan Gehl und mit dem Architektur- und Kulturjournalisten Hanno Rauterberg haben wir gelernt, wie wichtig das Maßstabsverhältnis zwischen Menschen und Bauten ist – und wie und wo das Gefühl von Privatheit das Erleben und Handeln von Menschen prägt.

Wenn wir also über die Zukunft des Stadtlebens, nicht nur im „Viertel“, sprechen, dann dürfen sich nicht Anwohner und Kneipen, nicht Künstler und Wirtschaft, nicht Gäste und Einheimische unversöhnlich gegenüberstehen: Dann zeigt sich viel mehr, dass unser Zusammenleben empfindlich gestört wird von Verkehrslärm, von fehlender gegenseitiger Rücksichtnahme und Wahrnehmung, von unverständlich und unverbindlich gewordenen Bildern von „Kommerz“ und auch von „Kultur“. Die wieder zu schärfen, bleibt unsere Aufgabe.

Politisch muss Kultur mehr sein als Künstler- und Veranstaltungsförderung: Wir müssen „Kultur“ viel stärker jenseits der bestehenden senatorischen Ressortgrenzen diskutieren. Es geht nicht immer gleich um Umwegrentabilitäten oder Kunstfreiheit  – es geht im eigenen Kiez und Quartier darum, hier zusammen zu leben, gemeinwohlorientiert zu planen, zusammen zu gestalten. Es geht um Empathie, Respekt und Spaß am Leben. Um das zu erkennen, sind Streit und laute Töne gar nicht schlecht. Und viel mehr Grau.

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Anfrage in der Fragestunde der Bremischen Bürgerschaft (April) – Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN:
Bremen ist eine Kulturstadt – in allen Quartieren

Wir fragen den Senat:

1. Welche Stellen sind in Bremen für Beratungen, Genehmigungen, Unterstützung und Konfliktlösungen im Bereich nicht staatlich geförderter Kulturangebote zuständig?

2. Wie bewertet der Senat in anderen Städten eingesetzte sogenannte „Nachtbürgermeister“ oder ehrenamtliche „Nachtwanderer“ als Möglichkeit, die Akzeptanz für kulturelle Angebote in Nachbarschaft zu Wohnbebauung oder zu Industrie- und Gewerbenutzung zu stärken, und welche alternativen Maßnahmen befürwortet der Senat?

3. Wie bewertet der Senat durch Kulturangebote im öffentlichen Raum ausgelöste Verkehrs-, Abfall- und andere Umweltbelastungen und wie könnte denen in den Quartieren besser begegnet werden?

Carsten Werner​, Dr. Matthias Güldner und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

#bremenlernt … von Jan Gehl

In Ideenwirtschaft, Stadt, Welt on 5. März 2015 at 19:07

Wie die Cappucinokultur die Stadtentwicklung prägt.

Wie Menschen ab dem 5. Stock aufwärts den Blick, den Zugang und die Lust auf Straßen- und Stadtleben verlieren.

Warum eine gute Verkehrsplanung wie ein Babyboom aussieht.

Warum ein guter Kultursenator sich für Städtebau, öffentliche Räume  und Verkehr interessieren muss.

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Warum wir alle mehr Italien spielen sollten.

Warum eine sensible, genaue Stadt-Wahrnehmung und Daten, Gutachten, Untersuchungen die Grundlage für Stadt-Planung und gutes Stadt-Leben sind.

Warum wir dafür radikalen Willen und spürbare Maßnahmen brauchen.

Warum Tunnel so 80er, Brücken unpraktisch sind – und wie man mit Rücksicht und Umsicht trotzdem über die Straße und durch geteilte Verkehrsräume kommt.

Das alles und noch viel mehr haben wir von Jan Gehl gelernt, der uns für einen Tag in Bremen besucht und uns seine Ideen für eine menschengerechte Stadtentwicklung nahegebracht hat – für die der Mensch der Maßstab ist und nicht das Auto.

 

Habt Ihr verpasst? – Das lässt sich reparieren. Dafür gibt es ja gute Lokalpresse,   gute Magazine,   gute Buchhandlungen und  gute Netzwerke!

 

Danach ist klar:

Dass die besten Ideen und Inspirationen und die besten Claims von Einzelnen kommen – von Kindern und alten Menschen, von Studierenden und Künstlern, von irgendwie Betroffenen oder Interessierten, aus den Initiativen und den NGOs, in Familien, Unis, Teams und Communities.

Dass Verkehr durch die Stadträume wie Wasser fließt – wo kein Platz dafür ist, zieht er sich zurück.

Dass die Menschen trotzdem und gerade in die Citys kommen.

Dass man gegen städtebauliche Sünden der Vergangenheit nicht auf Erdbeben oder Gewalt warten darf – sondern Ideen und Geld zusammenlegen muss.

Dass Bremens Carsharing „world famous“ ist.

 

Es war uns eine Ehre und ein Vergnügen, Jan Gehl!

 

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Kunst im öffentlichen Raum … ist Stadtentwicklung

In Kunst, Politik, Stadt on 29. Oktober 2014 at 19:29

Kunst im öffentlichen Raum ist eine öffentliche Angelegenheit!

Für einen kleinen Moment wurde groß und breit und laut über Kunst diskutiert in Bremen: Anlass war die mögliche Aufstellung einer privat finanzierten Stadtmusikanten-Skulptur des Künstlers Markus Lüpertz. Leider fand diese leidenschaftliche Diskussion aber erst statt, als Geldgeberin und Künstler ihre Idee verschreckt von der schrillen Aufmerksamkeit schon wieder zurückgezogen hatten: In den Online-Foren von Radio Bremen wurde heftig geschimpft und gewütet – nicht immer dem Kunstwerk und dem Künstler angemessen. Aber das muss Kunst im öffentlichen Raum aushalten.

Ärgerlich finde ich, dass die Diskussion um das Kunstwerk von Anfang an nicht offen war. Offenbar wurde nur ein einziger Standort – vor der Bremischen Bürgerschaft auf dem Marktplatz – ins Auge gefasst, begutachtet, abgebildet, in Aussicht gestellt, wie auch immer: Anfragen und Meinungen machten die Runde, der Präsident der Bürgerschaft und der Bürgermeister äußerten sich öffentlich in den Medien, ohne die Öffentlichkeit oder zuständige Gremien vorher beteiligt zu haben.

Aber die Geschichte der Stadtmusikanten, diese Geschichte von Lebenslust, Aufbruch, Mut und Kreativität, legt nahe, „neue“ Stadtmusikanten an ganz anderen Orten Bremens willkommen zu heißen und zu inszenieren. Nicht 4, sondern 20 Meter groß, könnten die Stadtmusikanten als ältestes multikulturelles Improvisations-Ensemble sichtbares Symbol Bremens sein; am Lankenauer Höft und Pier 2, im Hohentorshafen, am Autobahndreieck in Tenever, am Ohlenhof oder auf dem Utbremer Kreisel – statt als touristischer Knips- und Klick-Anlass die dezenten, schüchternen Original-Tiere von Gerhard Marcks am Rathaus dreist in den Schatten zu stellen.

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Über Kunst darf, muss und soll man reden, verhandeln, streiten und entscheiden. Es gibt dazu Verfahren und Gremien der Beratung und Beteiligung. Warum wurden die in diesem Fall nicht genutzt? Wenn z.B. der „Landesbeirat Kunst im öffentlichen Raum“, der Empfehlungen aussprechen soll, überholt ist, brauchen wir neue, zeitgemäßere Strukturen. Auch die gibt es schon – weil überall die Mittel für Kunst im öffentlichen Raum knapp, die rechtlichen Rahmen uneindeutiger geworden sind und auch, weil Kunst im öffentlichen Raum inzwischen über ganz andere Formen und Formate in öffentlichen Räumen agiert als in den 70er und 80er Jahren: Hamburg beschäftigt für diese kreative Auseinandersetzung eine Stadtkuratorin und das Programm „Neue Auftraggeber“ versucht, Ideen „für eine Kunst der Zivilgesellschaft“ zu generieren.

Denn Kunst im öffentlichen Raum ist ein Prozess. Kunst im öffentlichen Raum ist ein dynamisches Element der integrierten Stadtentwicklung geworden. Man müsste darüber streiten!

 

 

Kunst, zumal im öffentlichen Raum, ist längst keine Angelegenheit mehr allein von Stadtoberen und Geldgebern – das war der Ansatz und der Auftrag, der in Bremen in den 70ern formuliert wurde und die Stadt zum Vorreiter in diesem Diskurs gemacht hatte. Heute scheint hier nicht mehr so klar zu sein, dass das Öffentliche untrennbar zur Kunst im öffentlichen Raum gehört. Darüber müssen wir in Bremen debattieren. Bevor die nächsten Stadtmusikanten straucheln, ohne eine Chance zur Ankunft bekommen zu haben.

 

 

Zur weiteren Lektüre empfohlen:

Unsere Kleine Anfrage „Kunst im öffentlichen Raum und Kunst am Bau sind
Stadtentwicklung“

Hamburgs Stadtkuratorin
mehr dazu: http://gruenlink.de/u76
noch mehr dazu: http://gruenlink.de/u77

„Neue Auftraggeber“
mehr dazu: http://gruenlink.de/u79

Digitalpolitik ist kein Orchideenfach – was lernen wir von den Piraten?

In Ideenwirtschaft, Politik, Welt on 26. September 2014 at 19:20

Ich meine, dass angesichts der Austritte und Auseinandersetzungen in der Piratenpartei Schadenfreude oder Erleichterung über die Selbsterledigung einer politischen Konkurrenz völlig fehl am Platz sind.

Da zerlegt sich eine Bewegung, die versuchen wollte, die digitalisierte und entsprechend globalisierte Gesellschaft sozial und fair zu zivilisieren, in strukturellem und machtpolitischem Kleinklein. Das ist traurig für die Akteure – schade und ärgerlich vor allem aber für die politische und parlamentarische Arbeit zu Themen der digitalen Revolution und die gesellschaftliche Entwicklung mit digitalen Instrumenten.

Denn die Themen fallen nicht weg und die Herausforderungen lösen sich nicht auf, weil die Piraten sich in Posten- und Richtungsstreits und analogen Regularien aufreiben und verzetteln. Es wäre fatal, wenn unsere Auseinandersetzung mit digitalen Themen – und welches Thema hat heute keine digitalen Aspekte mehr? – jetzt nur noch von den Handreichungen, Leitfäden, Einladungen und Reklameschriften befeuert würde, die Tag für Tag von Google, Facebook, Wikimedia und den Verbänden der privaten Medien und der Internetwirtschaft auf uns Abgeordnete einprasseln. Denn das Internet ist mehr als ein Geschäft. Und Werbung ist ein schlechter Ratgeber.

Was aber bedeutet die Digitalisierung für den Arbeitsmarkt, für den Energieverbrauch, für die Entwicklung unserer Städte, wie prägt Digitalisierung die Kulturen und die Mobilität der Menschen weltweit? Das sind Fragen, die uns nicht die großen globalen Technologie- und Medienkonzerne stellen oder beantworten wollen und müssen. Wie künftig Teilhabe als Voraussetzung von Demokratie funktioniert, wie Menschen sich künftig begegnen und austauschen – das sind politische, gesellschaftliche Fragen.

Sie stellen sich uns in der Zeit einer #GroKo-Bundesregierung, für die das höchste der Gefühle ein funktionierendes W-LAN in ausgewählten Eisenbahnen und ein Leistungsschutzrecht sind, das nicht einmal dessen Auftraggebern – den großen Verlagen, die es allesamt nicht in Anspruch nehmen – taugt. Die juristische Konstruktion der Störerhaftung, die technisch längst mögliches und außerhalb Deutschlands übliches freies W-LAN in der Öffentlichkeit verhindert, will das Bundeswirtschaftsministerium jetzt ausschließlich für kommerzielle Anbieter abschwächen. Eine Reform der Urheberrechte zur rechtssicheren zeitgemäßen Anwendung lässt seit Jahren auf sich warten. Privatmenschen bleiben bei all diesen halbgaren, uneindeutigen Teil- und Scheinlösungen weiter billiges Anwaltsfutter. Die #GroKo blockiert weiter eine neue europäische Datenschutzrichtlinie. Sie wagt weder eine Definition noch eine gesetzliche Sicherung der Netzneutralität und leistet damit Drossel-Tarifen und vor allem der technischen Bevorzugung bestimmter Inhalte immer weiter Vorschub.

Und das sind „nur“ die technischen Aspekte der Digitalisierung. Individualisierten und zugleich global vernetzen Wirtschaftsformen des Sharings – vom Couchsurfing und Carsharing über airbnb bis zum Autofahrtenanbieter Uber – wird man mittelfristig nicht mit Verboten und dem Arbeitsrecht des vergangenen Jahrhunderts begegnen können. Dass neue Wirtschaftsmodelle und -angebote alte Produkte und Produktionsformen ablösen, ist logische Wirtschaftsentwicklung. Dass dabei Kriminalisierung kein erfolgversprechender Weg ist, haben die Musik- und die Filmindustrie leidvoll erfahren. Dass rein kommerzielle Lösungen nicht der einzig sinnvoll Weg sein müssen, muss man doch zumindest in Erwägung ziehen!

CDU und SPD betreiben Digitalthemen als Klientelpolitik. Die digitalenMöglichkeiten bieten aber – immer noch – riesige gesamtgesellschaftliche Chancen für Teilhabe und freie Meinungsäußerung und kulturelles Schaffen. Sie stellen nicht nur die Wirtschaft vor Herausforderungen, sondern auch etablierte Angebote des Gemeinwohls und der Daseinsvorsorge: von der Informationsfreiheit über den Gesundheitsbereich bis zu den Bibliotheken und Bürgerhäusern. Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft rasant – bis tief ins Privatleben und in die sozialen Gefüge unserer Gesellschaft. Die Bundesregierung verweigert diese Erkenntnis. Analoge Politik reicht im digitalen Zeitalter nicht mehr aus.

Dass Digitalpolitik kein Nebenaspekt oder Orchideenfach ist, sondern in allen Politik- und Lebensbereichen nötig ist, das haben die Piraten gewusst und gelebt. Ich bin deshalb für einen offenen Dialog mit ehemaligen Piraten, ihren Communities und Szenen: Wir könnten viel von ihnen lernen und einiges mit ihnen erreichen!

Die Kunst des Aufhörens

In Ideenwirtschaft, Kunst, wörtlich! on 10. Mai 2014 at 20:12

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Dieser Artikel ist ein Beitrag zu der Publikation „Brennen ohne Kohle“ der Böll-Stiftung, die hier bestellt oder als E-Book heruntergeladen werden kann. 

 

 

 

Wie schließen?

Mich nerven Leute, die aus Angst stehengeblieben sind,
obwohl sich die Welt um sie herum längst verändert hat.

(Peter Zadek)

Die anmaßende, überhebliche, unsinnliche und oberlehrerhaft arrogante Tonlage der «Kulturinfarkt»-Anstifter hat die Frage für Jahre frisch zum Tabu betoniert: «Wie schließen?» Ein kulturpolitisches No-Go also. Die Debatte wurde gar nicht erst politisch – sondern abgedrängt ins Feuilleton und entsprechend hysterisch, schrill und erratisch verhandelt; so gab es auf eine richtige Fragestellung nur vielzuviele vorlaute, vorschnelle Antworten, Geschrei; Tenor: Wir lassen alles so, wie es ist. Weil, so war es schon immer. Kulturfeinde! Freiheitsfeinde! Und: «Et hätt noch immer jot jejange!» (Wie man in Köln sagt.)

Kurz vorher noch hatten wir uns und der Kultur kühn in den rot-grünen Bremer Koalitionsvertrag geschrieben: «‹Altes› muss sich verändern und ‹Neues› muss in einer sich wandelnden Gesellschaft Räume und Ressourcen erobern können. Gerade auch zeitlich befristete Projekte können erhebliche Impulse für die Kultur- und Stadtentwicklung geben, ohne institutionalisiert werden zu müssen» – durchaus im Bewusstsein, dass solche Ermöglichung, Erneuerung nicht ohne Einschränkung geht. «Wie schließen?» wollten wir schon da lieber nicht fragen. Denn es können Mauern und Ideologien zusammenbrechen, Berufe vergehen und Wirtschaftszweige – in der Kulturförderung ist ein Schluss tabu.

Seit den 1970er Jahren bis heute boomt die Kultur in Deutschland – wo noch vor 40 Jahren pro Stadt 1–2 Theater, 1–2 Museen und 1–2 Bibliotheken die kulturelle Grundversorgung leisteten, sind ganze Industriezweige wie die Kreativwirtschaft mit Pop-, Medien- und Netzkultur hinzugewachsen, kulturelle Aufgaben und Beschäftigungsfelder wie die kulturelle Bildung und die integrierte Stadtentwicklung neu entstanden. Und vor allem ist eine Freie Szene erst entstanden und dann kontinuierlich gewachsen – in (zunächst) außerinstitutioneller Opposition zu den «Einrichtungen», eng verbunden mit der Entwicklung der Grünen und ihrer Themen übrigens: Freie Kultur kümmerte sich um Kindererziehung und sexuelle Aufklärung, um Ökologie und gesunde Ernährung, um Inklusion und Integration schon, als es die Begriffe dafür kaum gab. Freie Theater fanden (meistens) Worte und (nicht immer) Bilder für das, was irgendwie neu, kompliziert oder noch «heikel» war.

Wofür Lehrerinnen und Lehrern Worte oder Unterrichtsmaterial noch fehlten, machten irgendwo zwischen politischer Mission und Ehrenamt künstlerische Autodidakten «vermittelbar». Andererseits ging man auf die Straßen, probierte und provo zierte mit «unsichtbarem Theater». André Heller popularisierte und verknüpfte mit der künstlerischen Avantgarde der 1980er Jahre (und der Illustrierten Neue Revue) in der riesigen Park-Installation «Luna Luna» bildende Kunst und Clownstheater; Comedyfiguren wie Marlene Jaschke und der Biedermann «Herr Holm» erblickten dort das Licht der Welt. Aus diesen beiden Richtungen – institutionelle Opposition und kulturelle Avantgarde – entwickelten sich für die Theaterszene lukrative Märkte: Theater als pädagogische Funktion einerseits, Kleinkunst und Comedy andererseits.

Und so haben sie immer weitergemacht: Die Theaterspieler/innen spielen weiter, auch viele der Lehrer/innen unterrichten heute noch, die entstandenen Unterhaltungstheater sind erfolgreiche Touristenmagneten, ihre Protagonisten Fernseh-Mainstream. Sie haben (bis auf die Lehrer/innen) lange dafür kämpfen müssen: um Anerkennung in der Kulturwelt und ihrer erst entstandenen Berufe, um Gagen überhaupt, dann um Fördergeld und später auch um bauliche Institutionalisierung, zwischendurch immer wieder gegen wirtschaftliche Krisen und Unsicherheiten.

So wurden Lebenswerke daraus. Die gibt man nicht auf.

Dabei könnte das in – jetzt erst? – zeitgemäße eigene Strukturen führen: Genossenschaftsmodelle, Grundeinkommens-Versuche, Sharing nicht nur von Besitz, sondern auch von Ressourcen im Sinne einer Almende: In der Peripherie der «Freien» könnte erprobt werden, was in den Diskursen der regionalen, ökonomischen und intellektuellen Zirkel und Zentren längst wieder gedacht und behauptet wird. Welches Label, welche Formation der Freien Szene kommt eigentlich heute noch aus dem ländlichen Raum – arbeitet dort, kommt dort in Ruhe, mit Muße und Mut zu neuen Ideen? Auch da kam die «Freie Szene» mal her.

«Back to the roots», von den Ahnen lernen: Man müsste dazu die schnelle Aufmerksamkeit der Großstädte aufgeben, den dort so nahen, scheinbar greifbaren Erfolg. Aussteigen, raus ins Offene.

Stattdessen haben sich in der deutschen Theaterlandschaft Parallelwelten in Strukturen verfestigt, die Künstler und Künstlerinnen mit Missionen verdrängen oder erschöpfen. Der Nachwuchs betreibt Nachahmung von Funktionen, Nachbildung von Ästhetik. Die Stadt- und Staatstheater mitsamt ihrer Ausbildungsinstitute, Medienpartner und ihrem Publikumsabonnement verharren neben den «Freien», die auch lange schon nicht mehr so frei sind: Henning Fülle beschrieb beim «Impulse»-Festival 2012 ein «Parallelsystem der freien Theaterproduktion, das neben Künstlern und Künstlergruppen auch die Produktionshäuser, die Landesverbände und den Bundesverband der Freien Theater umfasst; das von kommunalen, Landes- und Bundes-Förderstrukturen getragen wird, dem eigene Festivals gewidmet sind und in denen die künstlerische performative und Theateravantgarde funktionieren kann. Dieses Paralleluniversum ist international orientiert und hat inzwischen auch Anschluss an die internationalen Entwicklungen der zeitgenössischen Theaterkunst gefunden.»

Diese Gegenbewegung holte für den deutschsprachigen Raum nach, was das rein literarische Bildungstheater an ästhetischen Entwicklungen der vorhergehenden Jahrzehnte in England und Amerika, Ost- und Südeuropa verpasst hatte: Mitte der 1980er Jahre fieberten wir auf Kampnagel beim Sommerfestival oder in den ersten Festivals «Politik im Freien Theater» für ein anderes Theater: politisch wirksam und aufklärerisch, ästhetisch innovativ, international. Endlich oben!

Viele «Freie» haben dabei etwas für Kunst Konstitutives ver- oder gar nicht erst gelernt: das Neuanfangen. Dem ja in der Regel ein Ende vorausgehen muss – hat doch jede und jeder von uns Hermann Hesses Ehrentags-Evergreen zur Konfirmation, zum Ende der Kindheit, zum Schulschluss, zur ersten Trauerfeier noch im Ohr – oder als Postkarte hinterm Spiegel klemmen, seine «Stufen»:
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Bloß wie kommt man auf die Höhe so eines erhebenden Endes? Das hatten und haben die etablierten Häuser den «Freien» voraus: das Aufhörenkönnen. Das fällt leichter, wenn man mal raus- und weitergehen kann, ohne dass alles zusammenbricht – und wieder rein, ohne «alles» erst erfinden zu müssen. Den Traditionen, Intendanten-Verträgen und dem Normalvertrag Solo sei Dank! (Sie machen eine urgrüne Idee weiterhin produktiv: die Rotation, den Stellungswechsel, den Rollentausch und Perspektivenwechsel als Voraussetzung für echte, innovative Kreativität.) Wenn von uns Freien doch mal jemand (s)ein «Haus» geschlossen hat, dann aus schierer Not, unter Zwang – oder um damit vergrößert, optimiert und instituionalisiert («professionalisiert»!) Wiederauferstehung zu feiern. Endlich wie die vielgeschmähten «Tanker»: manifest, immobil, unverrückbar da.

Aber immer noch ohne Vertrag, geschweige denn Tarifvertrag. Neben wenigen erfolgreichen Gruppen, Künstlern und «Marken» und einigen wenigen Produktionshäusern haben die Leistungen und Wirkungen der Freien Szenen aber die Aufstellung und Finanzierung der kulturellen Landschaft nur seltsam wenig geprägt. Während in der Bildungspolitik die Reformen kaum noch zählbar sind oder die Bauleitplanung längst von einer sozial bewegten integrierten Stadtentwicklung abgelöst wurde, während ökologisches Leben aus erneuerbaren Energien zum Mainstream wurde, sich weltpolitische Blöcke verschoben und globale Migration in Gang gesetzt haben, während also «Modernisierungsimpulse der Siebziger- und Achtzigerjahre zu ziemlich nachhaltigen Veränderungen der Mainstream- Strukturen geführt haben» (Fülle), während gerade dieser Tage eine SPD(!)-Umwelt(!)-Bundesministerin Public Viewing zur Erleichterung öffentlichen Grölens zum Sport (nicht zu einer Kultur!) erklärt – währenddessen ist die Theaterwelt resistent gegen grundlegende Entwicklung geblieben: Man konnte einfach nicht aufhören. Und ergo nicht neu anfangen.

Erobert und geblieben – wenn man die Ableger und Ausgründungen in Unterhaltungsgeschäft und Medienbetrieb außer Acht lässt, was ein Fehler sein könnte – ist für die Freien Theater ein Nischendasein mit spartanischer Förderung und prekären Arbeits- und Lebensbedingungen – verspartet und eingehegt als das per se «Neue» und/oder «Freie». Was in dieser Parallelwelt aber fehlt, ist eine Erfahrung des Aufhörens, die so wichtig wäre,
denn traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
(auch das sagte schon Hesse ;-) )

Doch für die Politik, zumal für die Grünen, ist «Freies» Theater per se gut (geblieben): Wenn es sich (irgendwie) mit kultureller Bildung verknüpft, wenn es (irgendwie; z.B. volkstheatrig oder comedymäßig) «neue Schichten erschließt», dann kann und darf das nicht falsch sein. Und am «Großen Theater» kann man nichts verändern: Wir haben uns, auch kulturpolitisch, an die Parallelwelten gewöhnt – und freuen uns irre, wenn sie sich mal begegnen, berühren, betasten oder zaghaft befruchten. Wer mehr will, erntet Protest: Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, meint zu Recht, dass heutige und künftige «Autoren des Theaters» die Regisseur/innen und Producer seien – und schafft den traditionellen «Stückemarkt» des Berliner Theatertreffens ab. Genauer: Er ersetzt die Suche nach immer neuen «Dramentexten» durch die Präsentation innovativer, integrierter Theaterforschungsarbeit. Er will etwas Altes aufgeben und etwas Neues machen. Es darf uns künstlerisch und kulturpolitisch nicht reichen, dass vor über dreißig Jahren Roberto Ciulli in Mühlheim mit seinem «Theater an der Ruhr» eine Strukturdebatte angestoßen hat: «Im Kern geht es um die Frage, wie Theaterarbeit künstlerisch und ökonomisch sinnvoll zu strukturieren ist, ob und wie die vorhandenen, tradierten Theaterstrukturen zu verändern sind. […] Die Frage nach der Struktur eines Systems ist aber die Frage nach seinem inneren Wesen, denn jede Struktur begrenzt und beschränkt die Möglichkeiten und die Fähigkeit mit dem System Welt zu kommunizieren.» Eine Idee muss die Struktur bestimmen, nicht immer wieder umgekehrt.

Ciulli hat die Idee des Reisens, die Migration und damit «einen weiterreichenden Dialog der Kulturen» zu seiner strukturbildenden Idee gemacht: «Die Bewegung, das Nichtverharren an einem Ort fordert Flexibilität und die Fähigkeit zur Improvisation und trägt wesentlich zur Finanzierung des Theaters bei», beschreibt er sein Theatermodell knapp auf seiner Homepage. Shermin Langhoffs Neuanfang am Berliner Maxim-Gorki-Theater macht jetzt wieder solche Hoffnung – und die, dass es nicht wieder für 34 Jahre die einzige Individualisierung einer relevanten «großen» Einrichtung bleibt, erwachsen aus einer kleineren, dem Ballhaus Naunynstraße.

Es mag der Fluch der Flüchtigkeit ihrer Kunst sein, der gerade Theatermenschen das Abgeben, Verwerfen und Neustarten ihrer Strukturen und Lieblingsideen so schwer macht, dass gerade im «Freien» Theater kaum ein Leitungswechsel ohne Not, Krise oder Kleinkrieg möglich scheint. Man ist halt wohl nie fertig? Ähnlich ist es in der Soziokultur. Aber es wäre so viel zu probieren und zu gewinnen, wenn mehr Verantwortliche wagen würden, irgendwomit aufzuhören und wirklich Neues zu beginnen: Ideen von einer Zukunft.

Warum gibt es immer noch kein/kaum Theater im digitalen Raum? Herbert Fritsch hat hier, mit Hamlet X und Elf Onkels, Pionierarbeiten geleistet. René Pollesch hat vor bald 20 Jahren im «Kleinen Fernsehspiel» des ZDF mit «Ich schneide schneller (soap)» TV-Theater gemacht – ob als ästhetische Form, Stoffentwicklung, zeitgemäße Hybridform oder Koproduktionsweise: Warum hat das niemand als Aufgabe auf (s)ein «Haus» übertragen? Manches Hörspiel ist heute theatralischer, dramatischer, lebendiger, authentischer als viele Bühnenspiele – warum gibt den Macherinnen niemand (s)ein gefördertes Theater? Der Dokumentarfilmer Andres Veiel hat als Autor und Regisseur seines Theaterstückes «Das Himbeerreich» am Deutschen Theater Berlin über deutsche Banker gesagt: «Ich habe die generelle Erfahrung gemacht, dass es immer schwieriger wird, an den Zentren der Macht dokumentarisch zu arbeiten. Durch zwischengeschaltete PR-Agenturen und durch ein gewachsenes Misstrauen gegenüber jeder Art von Transparenz ist das kaum noch möglich. Wenn es über die reine Selbstdarstellung von Erfolgen hinausgehen soll, wenn Entscheidungen hinterfragt oder wenn Machtzentren transparent gemacht werden sollen – dann merke ich, dass ich mit der Kamera dort nicht mehr reinkomme. […] ‹Das Himbeerreich› wäre dokumentarisch undenkbar gewesen. Niemand, der mit mir gesprochen hat, hätte das auch vor einer Kamera erzählt. Daher also ein Hoch auf das Theater – die Bühne ist genau der richtige Ort für diesen wichtigen Stoff.» Allein aus diesem Hinweis ließe sich mindestens ein weiteres Theater-Produktions-Team und -Haus grundsätzlich neu erfinden!

Die Herausforderungen in der Beziehung zwischen Literatur und Bühne liegen ja tatsächlich nicht darin, immer neue, nach jahrhundertealten Maßstäben «bühnentaugliche» Dialoge zu erfinden – sondern Theater als Format-Angebot für Autoren, als Portal für Wichtiges und Intensives zur Verfügung zu stellen, nutzbar zu machen. Für die, die etwas zu berichten, darzustellen, auszudrücken haben: Wissenschaftler/innen, Journalist/innen, Philosoph/innen, Biograf/innen, Aktivist/innen, Spezialist/innen – und Künstler/innen. Wie und wo, wenn nicht wenigstens im und mit Theater, sollen die unendlich vielen regionalen, sozialen, sprachlichen, fachlichen und globalgesellschaftlich ebenso risiko- wie innovationsträchtigen Parallelwelten miteinander verknüpft, verbunden, gedanklich und bildlich erlebt, sozial und psychologisch gelebt, ihre Soziolekte, Ethnolekte, Dialekte, Programmier- und Fachsprachen verständlich und durchlässig gemacht werden – im szenischen Verstehen, im Bilder-Finden, in direkter und immer interaktiver Live-Kommunikation?

Szenisches Verstehen, empathisches Erleben, eine Differenzierung von Glauben und Wissen, von Meinen, Kommentieren und Klicken sind unter die Räder einer rein sprachlichen, manchmal noch gedruckten, zunehmend digitalisierten Informations- und Wissensvermittlung gekommen. Diese Digitalisierung nicht nur als unhandliches Reklametool für Altes Theater zu verstehen, sondern als eigene Form eines Neuen Theaters, wäre ein weiterer lohnender Anfang. Das große neue digitale Gedächtnis hält genug vom Alten fest.

Es könnte jetzt mal wieder jemand aufhören, sein Lebenswerk und seinen Erbhof zu retten, #Regietheater und #Werktreue zu debattieren – und riskieren, (sich) Raum und Zeit und Hirn und Geld für Neues zu geben und zu nehmen.

Carsten Werner, April 2014

 

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Nachtrag, Herbst 2014:

oder so?

Kulturelle Bildung ist Herzensbildung, Empathieschulung, Differenzierungstraining

In Ideenwirtschaft, Politik, wörtlich! on 4. März 2014 at 09:50

meine Rede aus der Bremischen Bürgerschaft vom 27.02.2014 zur kulturellen Bildung:

Zuerst möchte ich sagen: Dass wir kulturelle Bildung hier heute mit dem Staatsrat des Bildungsressorts diskutieren – also das Thema in der Zuständigkeit der Schulen und nicht mehr „nur“ als pures Kultur-Thema gesehen wird: allein das ist ein bemerkenswerter Fortschritt in der Debatte! Danke dafür. Denn kulturelle Bildung ist nicht in erster Linie Kulturförderung – sondern vor allem: Bildung!

Kulturelle Bildung, kulturelles Tun und Erleben, spielen für die soziale und seelische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eine ganz wichtige Rolle. Die Entwicklung von Literalität, von Sprach- und Medienkompetenz, von Ausdrucksfähigkeit und Interpretationsfähigkeit – aber auch das Lernen von Konzentration und Rückzug geschieht am nachdrücklichsten bei der Wahrnehmung, bei der Gestaltung, bei der Rezeption und Produktion von Kunst und Kultur. Diese Definition des Senats von kultureller Bildung hat mich sehr gefreut.

Alle Schulen in Bremen und Bremerhaben bieten dazu neben den drei künstlerischen Unterrichtsfächern – Musik, Kunst und Darstellendes Spiel, die man in Fachdebatten zur kulturellen Bildung übrigens allzuoft vergisst – individuell entwickelte Kurse, Projekte und Veranstaltungen an – meist in Kooperation mit Kultureinrichtungen. Für die sind die Angebote der kulturellen Bildung oft Teil ihrer Fördervereinbarungen und Zuschüsse.

Zur kulturellen Bildung – davon zeugt die Senatsanwort, die wir heute debattieren, ja zum wiederholten Mal – gibt es in Bremen fast unendlich viele Gelegenheiten: Seit der Gründung des MOKS-Theaters und bis hin zu künstlerischen Großprojekten etwa der Bremer Kammerphilharmonie mit der Gesamtschule Ost gibt es neben ganz kleinteiligen Angeboten wie begleiteten Theater- und Museumsbesuchen oder Lesekreisen auch immer wieder neue innovative Projekte. Ich will nur zwei relativ aktuelle Beispiele nennen:

–      Das wunderbar sensibilisierende und deswegen ganz konkret auch sozial wirksame Projekt „Ist nackt schlimm?“ des Gerhardt Marcks Hauses hat bei den Schülern und Schülerinnen der GSO Eindrücke hinterlassen, die sie die Welt um sich herum buchstäblich mit neuen Augen sehen lassen: die Familie, das Schulumfeld, ihre Umwelt, die allgegenwärtige Werbung im öffentlichen Raum, auch ihr eigenes Verhältnis zum eigenen Körper und zu denen ihrer Mitschüler und Mitmenschen. Kultur verändert, prägt das Leben. Da interveniert die Auseinandersetzung mit Kunst in die sozialen Beziehungen und in die gesellschaftliche Wahrnehmung und provoziert bei den Jugendlichen Bewusstsein und Respekt für sich selbst und für andere, für ihre Kultur und für die Kulturen und die gesellschaftlichen Normen und Befindlichkeiten anderer. Und es gibt keine einfachen Antworten: Die Frage „Ist nackt schlimm?“ lässt sich in sehr viele Richtungen fragen und auch beantworten: Denn „nackt“ kann natürlich sehr schlimm sein – muss es aber überhaupt nicht. Es kommt eben auf den Anlass und den Grund und den Kontext und auf DIE SICHT an. Das haben wir heute Morgen anlässlich der Debatte um Kinderpronografie und Posingfotos und den Handel mit Kinderfotos debattiert. Und man würde dieser Tage ja vielen Journalisten und Politikern und Juristen in Berlin eine Begleitung von Künstlern und Kulturpädagogen des Bremer Gerhardt Marcks Hauses wünschen! Denn zu so einer Frage – „Ist nackt schlimm?“ – eine eigene, souveräne Haltung zu entwickeln – genau dazu dient kulturelle Bildung: Kulturelle Bildung ist soziale Bildung, Herzensbildung, das Lernen von Empathie und Differenzierung

–    Ein zweites Beispiel sind die Schul-Projekte von „Klangpol“ mit Neuer Musik – also einer Sparte, bei der wir Erwachsenen und auch wir kulturerfahrenen Erwachsenen durchaus vielleicht gelegentlich Verständnis- und Akzeptanzschwierigkeiten haben: Mit dieser Neuen Musik und ihren Ausdrucksweisen, ihrer Freiheit, können Kinder und Jugendliche viel freier assoziieren, viel offener agieren und experimentieren, als wenn sie monatelang erst Noten und dann mühsam das Greifen von Akkorden oder kompliziert ein Blasinstrument lernen und üben müssen – und sich dann jahrhundertelang etablierten kulturellen Codes aussetzen und nach denen beurteilen lassen müssen. Da werden also auch ganz komplizierte Hochkultur-Elemente zurückgeführt auf Ausdruck, auf Äußerung, auf Emotionen; wichtige, große Bedürfnisse!

Ich habe diese beiden Beispiele – von zig möglichen – genannt,  weil ich mich gefragt habe: Wie lässt sich der Effekt, der Erfolg von kultureller Bildung eigentlich feststellen?

Das ist nämlich ein Aspekt, der mir in der Antwort des Senats und auch schon in den Fragen der CDU (deswegen will ich das gar nicht kritisieren) ein bisschen zu kurz kommt: Lassen sich für kulturelle Bildung irgendwelche Erfolgskriterien, Kennzahlen, Ziele definieren? Der Senat schreibt mehrfach, dass er keine statistischen Daten zu den Projekten erhebe – und ich denke, das ist wahrscheinlich richtig: Statistik erfordert Aufwand, kann Kreativität bremsen und wird der Verschiedenheit der Projekte und Angebote wohl auch nicht gerecht. Aber: Ließe sich jenseits der großen systemischen  und statistischen Pisa-Studien nicht doch irgendwie erkennen und planen, wie kulturelle Bildung wirkt – oder auch nicht? – und wie sie wirken SOLL?

Wir haben uns erlaubt, den Fragen der CDU deshalb noch einige weitere zu den fachlichen, pädagogischen und sozialen Kriterien kultureller Bildung in einer Kleinen Anfrage hinterherzuschicken, um auch auf diesem Weg noch etwas weiter zu kommen.

Je professioneller und intensiver Kunst und Kultur gemacht, vermittelt und betrieben werden, desto intensiver und eindrücklicher wird die Kulturerfahrung wirken. Das lässt sich sicher nicht zählen und messen. Aber vielleicht lohnt es sich, Ansprüche und Ziele an die Angebote kultureller Bildung klar und deutlich zu formulieren.

Denn die kulturelle Bildung ist längst auch ein Markt der Kulturszene und der Kreativwirtschaft. Nennenswerte Anteile der institutionellen Förderung von Kultureinrichtungen und viel Geld aus dem Bildungsbereich sind mit dem Angebot und Aufwand kultureller Bildung begründet – bis hin zu Standortentscheidungen und Baumaßnahmen etwa für die Kammerphilharmonie an der Gesamtschule in Bremen Ost oder die Shakespeare Company am Leibnizplatz mit der Oberschule dort.

Und das wirft Fragen auf
–      etwa nach der Bezahlung der unterschiedlichen Akteure in den interdisziplinären und multiprofessionellen Teams
–      nach der Qualifikation der Akteure – sowohl künstlerisch als auch pädagogisch
–      nach der Gleichbehandlung staatlicher und privater Anbieter und Akteure
–      auch nach so etwas wie Qualitätsmanagement – auch wenn das ein in Kunst wie Pädagogik erstmal gleichermaßen unübliches und wohl auch unbeliebtes Wort sein mag …

Deshalb regen wir Grünen an,
–      dass wir beim Anliegen kultureller Bildung in Zukunft ein verstärkt die Qualität der Angebote, ihre nachhaltige Wirkung und auch ihre Innovationskraft fördern.
–      Wir sollten bildungspolitische und pädagogische Anliegen und Ziele formulieren an kulturelle Bildung und an die, die sie in interdisziplinären, multiprofessionellen Teams vermitteln.
–      Und daraus sollten Kriterien für entsprechende institiutionelle Förderung entwickelt werden – und auch für die entsprechenden „Wohnen in Nachbarschaften“-Projekte, die über die stART-Jugend-Kunst-Stiftung geförderten Projekte oder die mit der Metropolregion finanzierten – und Kriterien, die vielleicht auch relevant werden können für die swb-Bildungsinitiative, das „Helden“-Programm der Sparkasse oder die Bremer „Schuloffensive“ und manche lokale und überregionale private Stiftungen …

… Um mal einige der vielen Förderer und vielen Gelder zu benennen, die dankenswerterweise inzwischen die kulturelle Bildung bewegen.

Neben solchen Qualitäts- und Wirkungskriterien wird eine weitere Herausforderung an kulturelle Bildung ganz deutlich, wenn man sich die Spartenzuordnungen der einzelnen Projekte in der Senatsantwort anschaut: Das sind die ganz klassischen, althergebrachten Kunstsparten – Theater, Bildende Kunst, Klassische Musik. Erstaunt hat mich, dass Literatur in der Auflistung gar nicht vorkommt? Aber das mag eine Panne sein. – Wir Grünen denken aber vor allem, dass kulturelle Bildung sich auch der eigenen kulturellen Erfahrungswelt der Jugendlichen stellen muss.

Und zur kulturellen Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen gehören eben erst einmal ihre  familiären, interkulturellen und Migrations-Erfahrungen und –Prägungen! – Ihre kulturelle Biografie. Ihr kulturelles Interesse und Erleben orientiert sich nicht an Kunstsparten, sondern ist geprägt von sozialen und familiären Erfahrungen, von medialen Angeboten und Kulturformen, von Gestaltung, Images und Design. Da heißen die Sparten heute eher: Mode, Videos, Popkultur, Netzkultur, auch Sport – und mit denen muss sich kulturelle Bildung mehr auseinandersetzen! Sich diesen Genres zuzuwenden, das scheint mir ein weiteres wichtiges Kriterium – das sind keine Rand- oder Mode- oder Jugend-Phänomene, das sind neue breit etablierte Kulturformen und -techniken der Inszenierung, der Gestaltung, des Ausdrucks – die gelesen, verstanden und interpretiert werden müssen. Wenn die Kulturakteure sich darauf einlassen, haben sie auch selbst noch einen größeren Erkenntnisgewinn aus den Projekten mit Kindern und Jugendlichen aus verschiedenen Kulturen und Generationen.

– Und, apropos: Nach unserer Überzeugung gilt das wie für Schulen genau so auch für Kindertageseinrichtungen. Kulturelle Bildung gehört gleichermaßen in die Kitas wie in die Schulen und auch in weiterhin in den außerschulischen Bereich.

Vielen Dank.

Das sollten wir nicht verschenken!

In Ideenwirtschaft, Politik, Stadt, wörtlich! on 3. März 2014 at 19:53

Ich meine, dass wir es uns nicht leisten können, auf die Kompetenz und das Engagement von Bürgern und Bürgerinnen, Unternehmen und Initiativen zu verzichten.

Wir Grünen stehen für Basisdemokratie und Bürgerbeteiligung in den demokratischen Prozessen – und historisch steht unsere Partei für die Integration von Bewegungen und Ideen aus dem außerparlamentarischen Raum, aus der Bevölkerung, in politische, parlamentarische, demokratische Prozesse. Das Ausdiskutieren von Positionen, das Integrieren von Bewegungen, das Aushalten von Konflikten war nicht immer einfach – aber produktiv: „Grüne Themen“ sind Common Sense geworden, grüne Kompetenz ist überall gefragt. Dafür stehen als Schlusspointe des vergangenen Wahljahres 2013 auch einige „grüne“ Personalien der schwarz-roten GroKo in Berlin.

Ich meine: Wir können es uns auch in Zukunft nicht leisten, auf die Kompetenz und das Engagement von Bürgern und Bürgerinnen, Initiativen und Unternehmen zu verzichten. Als Partei wäre es dumm, auf den Rat und die Expertise von Freunden und Kritikern zu verzichten – von der Quartiersentwicklung über privates Nachhaltigkeits- und Energieverhalten bis hin zu den demografischen und kulturellen Entwicklungen einer mobilen und digitalen Gesellschaft sollten wir immer wieder genau auf die vielfältigen Erfahrungen unserer Mitglieder, vor allem aber auch sympathisierender Freunde vertrauen – und uns auch jenseits der parlamentarischen Gremien und der medialen Öffentlichkeit mit Mitbewerbern und Konkurrenten auseinandersetzen.

Zu oft begreifen und vernachlässigen wir inhaltliche Inputs als „Antragsprosa“ für verkappte Finanzierungsbegründungen; zu oft wird Engagement als freakig oder egoistisch abgestempelt und weggeheftet; zu oft tun wir Ansichten ab, weil sie vermeintlich „gegnerische“ sind. Aber anders herum wird ein Schuh draus: Als Partei müssen wir uns mit allen beschäftigen, die uns nah, aber nicht unbedingt vollkommen grün sind – von der Piratenpartei bis zu den Wirtschaftsverbänden, vom Urban Gardening bis zu privaten Sozial-, Bildungs- und Kulturangeboten. Und als Regierungspartner können wir es uns finanziell gar nicht leisten, auf die „kommunale Intelligenz“ der Nachbarschaften und Communities, von sachkundigen BürgerInnen und interessierten Gruppen zu verzichten! Gerade in Zeiten knapper Finanzmittel müssen wir Privatinitiative und Bürgerengagement als wichtige Ressource begreifen.

Bürgerbeteiligung darf sich deshalb nicht auf demokratische Verfahren einerseits und auf Protest-Management andererseits beschränken: Zukunftswerkstätten – wie sie zum Beispiel die Bürgerinitiativen zum Osterfeuerberger Ring, zur Waller Mitte am Dedesdorfer Platz begonnen haben, wie sie der Bausenator zur Entwicklung des Leitbildes „Bremen 2020“ oder zur Zukunft des neuen Hulsberg-Viertels oder wie sie das Kreativwirtschafts-Projekt „Brennerei“ für die Zukunft des Bürgerparks und seiner Finanzierung durchgeführt haben – sind nachhaltig im besten Sinne: Sie stimulieren und motivieren gesellschaftliche Entwicklung mit nachbarschaftlichem Engagement, schaffen Identifikation und sparen so soziale Folgekosten. Sie ermöglichen Vielfalt, realisieren Experimente und Visionen – und verankern mit Ideen, Fantasie und Kompetenz notwendige Veränderungen und Neuerungen frühzeitig in der Stadtgesellschaft.

Wir müssen deshalb Bürgerinnen und Bürger unterstützen und immer wieder in die Lage versetzen, zum Gemeinwohl beizutragen. Dazu gehört eine offene Informations- und Motivationspolitik. Und dazu gehört auch, die politischen Wege und Verwaltungsprozesse noch transparenter zu machen: Klar zu machen, in welchen Rahmen, zwischen welchen Anliegen und Interessen und in welchen rechtlichen, technischen und auch finanziellen, zeitlichen und personellen Grenzen Beteiligung notwendig und möglich ist, und in welchen Rahmen und Grenzen Vorhaben geplant und realisiert werden können. Denn Bürgerbeteiligung ist kein Wunschkonzert und ist weder Vorfahrts- noch Einbahnstraße.

Wenn in Zukunftswerkstätten, für Entwicklungsagenturen und an Runden Tischen von vornherein klar ist, welche Erkenntnisse gewonnen, welche Verfahrensschritte erreicht werden sollen, wessen Entscheidungen damit vorbereitet werden – und was NICHT –, dann kann die konstruktive Teilhabe an solchen Prozessen auch über den berüchtigten eigenen Tellerrand und Gartenzaun hinaus befriedigend sein. Die daraus auch entstehende Kompetenzerweiterung ist ein echter Mehrwert!

Durch die Förderung von gemeinwohlorientiertem Bauen durch Baugruppen, Selbstnutzer und Genossenschaften, durch die Stärkung von Nachbarschaften und Ehrenämtern, durch die Unterstützung privater Kinderbetreuung, durch Sozial- und Kulturangebote in privaten, auch neuen Trägerstrukturen – und natürlich durch vielseitige Teilhabe an allen Facetten des gesellschaftlichen Lebens kann der Zusammenhalt der Städte und Quartiere konkret gestärkt und nachhaltig gestaltet werden. So können Sicherheits- und Reparaturkosten, soziale Schief- und Notlagen begrenzt werden.

Bremen kann es sich nicht leisten, auf das Wissen, die Ideen, die Fähigkeiten und die Hilfe seiner BürgerInnen zu verzichten. Deshalb wünsche ich mir für die nächsten Jahre noch mehr konstruktive Bürgerbeteiligung – mit Ideen und Impulsen der BürgerInnen, mit ihrer Kompetenz, Spezialisierung und Betroffenheit, mit sichtbaren Ergebnissen – und mit einer dazu auch neu zu entwickelnden Kultur der Anerkennung und des Dankes.

Als Projekte bieten sich neben Quartiers- und Stadtentwicklungsthemen dafür auch andere Politikbereiche an: Das „Zuckerwerk“ hat eine Wertschätzung und Anerkennung wie die Bürgerhäuser oder wie das Musikfest verdient! Das Stadtmarketing kann zu einem ureigenen Projekt der BürgerInnen Bremens weiterentwickelt werden – Mundpropaganda, Spezialistenwissen first!. Die Innenstadt muss von und für BürgerInnen ein Stück weit für das öffentliche Leben auch jenseits des Shoppings zurückerobert werden. In Ampelworkshops können in Hamburg die Verkehrsteilnehmer aller Verkehrsarten ihre spezifischen Erfahrungen einbringen und lernen, die Perspektiven der anderen berücksichtigen. In Sharing-Börsen kann „Nutzen statt Besitzen“ erprobt und als Kultur einer solidarischen Ökonomie etabliert werden. Eine Bremer „Kulturloge“ kann kulturelle Teilhabe für Menschen mit geringem Einkommen in der Veranstaltungswirtschaft und der Kulturszene organisieren. – So wird Kompetenz konkret wirksam. Ich meine: Wir sollten das nicht verschenken!

Für eine digitale Agenda – international und kommunal

In Medien, Politik, Stadt, wörtlich!, Welt on 14. Dezember 2013 at 09:29

In dieser Woche haben weltweit operierende Konzerne wie Google, Apple, Twitter, Facebook, AOL, Yahoo und Microsoft bei der amerikanischen Regierung eine Geheimdienstreform angemahnt. Der deutschen Bundesregierung (der amtierenden, und der künftigen wohl gleich mit) wirft der Telekom-Chef „Leisetreterei“ vor und kritisiert ihren Umgang mit der Geheimdienst-Lausch-Affäre als „demokratiegefährdend“. Und 560 Schriftsteller mahnen digitale Bürgerrechte an.

Die Datenwirtschaft sitzt auf einem riesigen – so wertvollen wie gesellschaftlich und politisch gefährlichen – Datenschatz, den sie gesammelt hat und den sie in jeder Minute vergrößert. Die Unternehmen wissen, wo wir wann mit wem welche Straßen benutzen, wann wir aufstehen und wo wir essen gehen oder welche Filme wir gucken – Twitter und Google registrieren die Ausbreitung von Krankheiten oder revolutionären Bewegungen schneller als jede Behörde oder Nachrichtenagentur. Microsoft hat Zugang zu vier von fünf aller Computer in der Welt. Ohne digitale Hilfe können wir heute kaum noch reisen, uns informieren, kommunizieren, ein Medikament einnehmen, eine Verabredung treffen. Und niemand von uns hat es selbst in der Hand, die dicken digitalen Spuren zu löschen oder auch nur zu verwischen, die jeder von uns dabei hinterlässt; wir können nicht einmal deren Auswertung und deren Verkauf widersprechen. Staaten und Politik sind weitgehend ratlos, wie das gehen soll – wir stammeln von „Neuland“, Schwierigkeiten und Herausforderungen. Jetzt geht die Angst um – und am lautesten bei den weltmarktführenden Unternehmen um ihren Datenschatz und dessen Sprengkraft.

Fünfhundertsechzig Schriftsteller aus der ganzen Welt rufen, ebenfalls in dieser Woche, dazu auf, die Demokratie in der digitalen Welt gegen die systematische Überwachung im Internet durch Firmen und Geheimdienste zu verteidigen. Sie fordern das Bürgerrecht ein, über das Sammeln, Speichern und Verwerten seiner, meiner, Deiner Daten mit zu bestimmen. Das war in der analogen Welt eine banale Selbstverständlichkeit: Dass ich entscheide, wen ich meine Briefe lesen lasse, wem ich meine Schlüssel in die Hand gebe, mit wem ich meine Interessen und Beziehungen bespreche. Nun ist die Welt in diesem Jahr nicht plötzlich digital geworden: Seit Jahrzehnten arbeiten wir vertrauensvoll mit Computern, steuern sie Geräte und Maschinen, denen wir vertrauen. PINs und TANs waren schon immer digital, auch wenn wir sie auf ausgedruckten Minizettelchen zwischen Bibeln und Kochbüchern versteckt haben. Sicher war das nie. Dass persönliche Geheimnistuerei global gar nicht mehr funktioniert, merken, ahnen wir erst jetzt.

writersagainstDie SchriftstellerInnen erinnern in ihrem beeindruckend einfach gehaltenen, wichtigen Appell an die Unschuldsvermutung als zentrale Errungenschaft unserer Zivilisation (hier erläutern Juli Zeh und Ilija Trojanow ihre Initiative: „Alles ist gesagt, jetzt müssen wir handeln“). Und sie appellieren an die Vereinten Nationen, eine internationale „Konvention der digitalen Rechte“ zu verabschieden.

Ich meine: Diesem Aufruf müssen wir uns anschließen!Und wir müssen uns ihm politisch stellen: Es ist höchste Zeit, die Digitalisierung der Gesellschaft endlich ernst zu nehmen als das, was sie ist: die Digitalisierung der Gesellschaft. Auf allen Ebenen. Überwachung ist heute Realität.

Die Digitalisierung wurde ja nicht nur beim Datenschutz jahr(zehnt)elang weitgehend ignoriert oder auf rein symptomatischer Ebene diskutiert – auch die Musik-, Film- und Medienindustrie haben sie unterschätzt. In  dieser Woche hat der Digitalkonzern Springer – vor ein paar Monaten noch ein klassischer Verlag, der das gedruckte Wort mit Leistungsschutzrecht und Depublikationspflicht gegen Internetnutzer und Fernsehsender verteidigen wollte – den Fernsehsender N24 gekauft, um seine Medienangebote crossmedial und hybrid weiter zu entwickeln: Wir erleben gerade, dass Zeitung, Fernsehen, Blogs und Radio sich in Medienportalen vereinen. Arabische und afrikanische Machthaber haben ihre Potentiale unterschätzt. Im Bildungsbereich hinken wir der kulturellen und technologischen Entwicklung – und oft der Kompetenz und Lebenswirklichkeit der Schüler selbst – Jahre hinterher. Stadtplaner erklären uns heute, dass „das iPhone“ den Personenverkehr und das Einkaufen grundlegend verändern wird: Wer mit dem Telefon in der Hand PINs und ISBNs tippend, Codes scannend vorm Parkscheinautomaten oder in der Buchhandlung steht, der erlebt das. Kulturwissenschaftler nennen es eine neue industrielle Revolution.

(Dazu hier ein kleiner interaktiver Test:
Wann wurde das iPhone erfunden?
Schätzt mal – und dann sucht irgendwo die Antwort!)

Wir brauchen eine digitale Agenda – auf europäischer und nationaler Ebene sowieso. Aber auch international – und kommunal: Wohin soll uns die Digitalisierung als Kommune bringen – und wohin nicht? Denn Techniken sind keine Naturgesetze.

Grüne Bundestagsabgeordnete wie Konstantin von Notz und Tabea Rößner haben anlässlich der NSA-Affäre das Wort von der „Kernschmelze“ unserer Bürgerrechte, der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geprägt – schon ein paar Wochen später haben das jetzt die Weltwirtschaft und die Weltliteratur jetzt fast gleichzeitig übernommen. In den Wahlnachlesen unserer Partei habe ich das Wort „digital“ dagegen so gut wie gar nicht gehört oder gelesen. Für dieses zentrale Thema sollten wir uns aber Zeit und Kraft nehmen und uns auch noch einmal mit den „Piraten“ auseinandersetzen – und zusammensetzen: Sie haben, wie auch die Grüne Jugend, das neue Betriebssystem für unsere digitale Gesellschaft schon ganz gut verstanden. Und deshalb können sie wichtige Partner dabei sein, es zu verbessern. Damit neben den Risiken auch wieder die wunderbaren Chancen der Digitalisierung auf der Agenda stehen.

Carsten Werner, Mitglied der Bremischen Bürgerschaft – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Sprecher für Kultur und Medien, Bau und Stadtentwicklung

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