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Die Kunst des Aufhörens

In Ideenwirtschaft, Kunst, wörtlich! on 10. Mai 2014 at 20:12

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Dieser Artikel ist ein Beitrag zu der Publikation „Brennen ohne Kohle“ der Böll-Stiftung, die hier bestellt oder als E-Book heruntergeladen werden kann. 

 

 

 

Wie schließen?

Mich nerven Leute, die aus Angst stehengeblieben sind,
obwohl sich die Welt um sie herum längst verändert hat.

(Peter Zadek)

Die anmaßende, überhebliche, unsinnliche und oberlehrerhaft arrogante Tonlage der «Kulturinfarkt»-Anstifter hat die Frage für Jahre frisch zum Tabu betoniert: «Wie schließen?» Ein kulturpolitisches No-Go also. Die Debatte wurde gar nicht erst politisch – sondern abgedrängt ins Feuilleton und entsprechend hysterisch, schrill und erratisch verhandelt; so gab es auf eine richtige Fragestellung nur vielzuviele vorlaute, vorschnelle Antworten, Geschrei; Tenor: Wir lassen alles so, wie es ist. Weil, so war es schon immer. Kulturfeinde! Freiheitsfeinde! Und: «Et hätt noch immer jot jejange!» (Wie man in Köln sagt.)

Kurz vorher noch hatten wir uns und der Kultur kühn in den rot-grünen Bremer Koalitionsvertrag geschrieben: «‹Altes› muss sich verändern und ‹Neues› muss in einer sich wandelnden Gesellschaft Räume und Ressourcen erobern können. Gerade auch zeitlich befristete Projekte können erhebliche Impulse für die Kultur- und Stadtentwicklung geben, ohne institutionalisiert werden zu müssen» – durchaus im Bewusstsein, dass solche Ermöglichung, Erneuerung nicht ohne Einschränkung geht. «Wie schließen?» wollten wir schon da lieber nicht fragen. Denn es können Mauern und Ideologien zusammenbrechen, Berufe vergehen und Wirtschaftszweige – in der Kulturförderung ist ein Schluss tabu.

Seit den 1970er Jahren bis heute boomt die Kultur in Deutschland – wo noch vor 40 Jahren pro Stadt 1–2 Theater, 1–2 Museen und 1–2 Bibliotheken die kulturelle Grundversorgung leisteten, sind ganze Industriezweige wie die Kreativwirtschaft mit Pop-, Medien- und Netzkultur hinzugewachsen, kulturelle Aufgaben und Beschäftigungsfelder wie die kulturelle Bildung und die integrierte Stadtentwicklung neu entstanden. Und vor allem ist eine Freie Szene erst entstanden und dann kontinuierlich gewachsen – in (zunächst) außerinstitutioneller Opposition zu den «Einrichtungen», eng verbunden mit der Entwicklung der Grünen und ihrer Themen übrigens: Freie Kultur kümmerte sich um Kindererziehung und sexuelle Aufklärung, um Ökologie und gesunde Ernährung, um Inklusion und Integration schon, als es die Begriffe dafür kaum gab. Freie Theater fanden (meistens) Worte und (nicht immer) Bilder für das, was irgendwie neu, kompliziert oder noch «heikel» war.

Wofür Lehrerinnen und Lehrern Worte oder Unterrichtsmaterial noch fehlten, machten irgendwo zwischen politischer Mission und Ehrenamt künstlerische Autodidakten «vermittelbar». Andererseits ging man auf die Straßen, probierte und provo zierte mit «unsichtbarem Theater». André Heller popularisierte und verknüpfte mit der künstlerischen Avantgarde der 1980er Jahre (und der Illustrierten Neue Revue) in der riesigen Park-Installation «Luna Luna» bildende Kunst und Clownstheater; Comedyfiguren wie Marlene Jaschke und der Biedermann «Herr Holm» erblickten dort das Licht der Welt. Aus diesen beiden Richtungen – institutionelle Opposition und kulturelle Avantgarde – entwickelten sich für die Theaterszene lukrative Märkte: Theater als pädagogische Funktion einerseits, Kleinkunst und Comedy andererseits.

Und so haben sie immer weitergemacht: Die Theaterspieler/innen spielen weiter, auch viele der Lehrer/innen unterrichten heute noch, die entstandenen Unterhaltungstheater sind erfolgreiche Touristenmagneten, ihre Protagonisten Fernseh-Mainstream. Sie haben (bis auf die Lehrer/innen) lange dafür kämpfen müssen: um Anerkennung in der Kulturwelt und ihrer erst entstandenen Berufe, um Gagen überhaupt, dann um Fördergeld und später auch um bauliche Institutionalisierung, zwischendurch immer wieder gegen wirtschaftliche Krisen und Unsicherheiten.

So wurden Lebenswerke daraus. Die gibt man nicht auf.

Dabei könnte das in – jetzt erst? – zeitgemäße eigene Strukturen führen: Genossenschaftsmodelle, Grundeinkommens-Versuche, Sharing nicht nur von Besitz, sondern auch von Ressourcen im Sinne einer Almende: In der Peripherie der «Freien» könnte erprobt werden, was in den Diskursen der regionalen, ökonomischen und intellektuellen Zirkel und Zentren längst wieder gedacht und behauptet wird. Welches Label, welche Formation der Freien Szene kommt eigentlich heute noch aus dem ländlichen Raum – arbeitet dort, kommt dort in Ruhe, mit Muße und Mut zu neuen Ideen? Auch da kam die «Freie Szene» mal her.

«Back to the roots», von den Ahnen lernen: Man müsste dazu die schnelle Aufmerksamkeit der Großstädte aufgeben, den dort so nahen, scheinbar greifbaren Erfolg. Aussteigen, raus ins Offene.

Stattdessen haben sich in der deutschen Theaterlandschaft Parallelwelten in Strukturen verfestigt, die Künstler und Künstlerinnen mit Missionen verdrängen oder erschöpfen. Der Nachwuchs betreibt Nachahmung von Funktionen, Nachbildung von Ästhetik. Die Stadt- und Staatstheater mitsamt ihrer Ausbildungsinstitute, Medienpartner und ihrem Publikumsabonnement verharren neben den «Freien», die auch lange schon nicht mehr so frei sind: Henning Fülle beschrieb beim «Impulse»-Festival 2012 ein «Parallelsystem der freien Theaterproduktion, das neben Künstlern und Künstlergruppen auch die Produktionshäuser, die Landesverbände und den Bundesverband der Freien Theater umfasst; das von kommunalen, Landes- und Bundes-Förderstrukturen getragen wird, dem eigene Festivals gewidmet sind und in denen die künstlerische performative und Theateravantgarde funktionieren kann. Dieses Paralleluniversum ist international orientiert und hat inzwischen auch Anschluss an die internationalen Entwicklungen der zeitgenössischen Theaterkunst gefunden.»

Diese Gegenbewegung holte für den deutschsprachigen Raum nach, was das rein literarische Bildungstheater an ästhetischen Entwicklungen der vorhergehenden Jahrzehnte in England und Amerika, Ost- und Südeuropa verpasst hatte: Mitte der 1980er Jahre fieberten wir auf Kampnagel beim Sommerfestival oder in den ersten Festivals «Politik im Freien Theater» für ein anderes Theater: politisch wirksam und aufklärerisch, ästhetisch innovativ, international. Endlich oben!

Viele «Freie» haben dabei etwas für Kunst Konstitutives ver- oder gar nicht erst gelernt: das Neuanfangen. Dem ja in der Regel ein Ende vorausgehen muss – hat doch jede und jeder von uns Hermann Hesses Ehrentags-Evergreen zur Konfirmation, zum Ende der Kindheit, zum Schulschluss, zur ersten Trauerfeier noch im Ohr – oder als Postkarte hinterm Spiegel klemmen, seine «Stufen»:
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Bloß wie kommt man auf die Höhe so eines erhebenden Endes? Das hatten und haben die etablierten Häuser den «Freien» voraus: das Aufhörenkönnen. Das fällt leichter, wenn man mal raus- und weitergehen kann, ohne dass alles zusammenbricht – und wieder rein, ohne «alles» erst erfinden zu müssen. Den Traditionen, Intendanten-Verträgen und dem Normalvertrag Solo sei Dank! (Sie machen eine urgrüne Idee weiterhin produktiv: die Rotation, den Stellungswechsel, den Rollentausch und Perspektivenwechsel als Voraussetzung für echte, innovative Kreativität.) Wenn von uns Freien doch mal jemand (s)ein «Haus» geschlossen hat, dann aus schierer Not, unter Zwang – oder um damit vergrößert, optimiert und instituionalisiert («professionalisiert»!) Wiederauferstehung zu feiern. Endlich wie die vielgeschmähten «Tanker»: manifest, immobil, unverrückbar da.

Aber immer noch ohne Vertrag, geschweige denn Tarifvertrag. Neben wenigen erfolgreichen Gruppen, Künstlern und «Marken» und einigen wenigen Produktionshäusern haben die Leistungen und Wirkungen der Freien Szenen aber die Aufstellung und Finanzierung der kulturellen Landschaft nur seltsam wenig geprägt. Während in der Bildungspolitik die Reformen kaum noch zählbar sind oder die Bauleitplanung längst von einer sozial bewegten integrierten Stadtentwicklung abgelöst wurde, während ökologisches Leben aus erneuerbaren Energien zum Mainstream wurde, sich weltpolitische Blöcke verschoben und globale Migration in Gang gesetzt haben, während also «Modernisierungsimpulse der Siebziger- und Achtzigerjahre zu ziemlich nachhaltigen Veränderungen der Mainstream- Strukturen geführt haben» (Fülle), während gerade dieser Tage eine SPD(!)-Umwelt(!)-Bundesministerin Public Viewing zur Erleichterung öffentlichen Grölens zum Sport (nicht zu einer Kultur!) erklärt – währenddessen ist die Theaterwelt resistent gegen grundlegende Entwicklung geblieben: Man konnte einfach nicht aufhören. Und ergo nicht neu anfangen.

Erobert und geblieben – wenn man die Ableger und Ausgründungen in Unterhaltungsgeschäft und Medienbetrieb außer Acht lässt, was ein Fehler sein könnte – ist für die Freien Theater ein Nischendasein mit spartanischer Förderung und prekären Arbeits- und Lebensbedingungen – verspartet und eingehegt als das per se «Neue» und/oder «Freie». Was in dieser Parallelwelt aber fehlt, ist eine Erfahrung des Aufhörens, die so wichtig wäre,
denn traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
(auch das sagte schon Hesse ;-) )

Doch für die Politik, zumal für die Grünen, ist «Freies» Theater per se gut (geblieben): Wenn es sich (irgendwie) mit kultureller Bildung verknüpft, wenn es (irgendwie; z.B. volkstheatrig oder comedymäßig) «neue Schichten erschließt», dann kann und darf das nicht falsch sein. Und am «Großen Theater» kann man nichts verändern: Wir haben uns, auch kulturpolitisch, an die Parallelwelten gewöhnt – und freuen uns irre, wenn sie sich mal begegnen, berühren, betasten oder zaghaft befruchten. Wer mehr will, erntet Protest: Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, meint zu Recht, dass heutige und künftige «Autoren des Theaters» die Regisseur/innen und Producer seien – und schafft den traditionellen «Stückemarkt» des Berliner Theatertreffens ab. Genauer: Er ersetzt die Suche nach immer neuen «Dramentexten» durch die Präsentation innovativer, integrierter Theaterforschungsarbeit. Er will etwas Altes aufgeben und etwas Neues machen. Es darf uns künstlerisch und kulturpolitisch nicht reichen, dass vor über dreißig Jahren Roberto Ciulli in Mühlheim mit seinem «Theater an der Ruhr» eine Strukturdebatte angestoßen hat: «Im Kern geht es um die Frage, wie Theaterarbeit künstlerisch und ökonomisch sinnvoll zu strukturieren ist, ob und wie die vorhandenen, tradierten Theaterstrukturen zu verändern sind. […] Die Frage nach der Struktur eines Systems ist aber die Frage nach seinem inneren Wesen, denn jede Struktur begrenzt und beschränkt die Möglichkeiten und die Fähigkeit mit dem System Welt zu kommunizieren.» Eine Idee muss die Struktur bestimmen, nicht immer wieder umgekehrt.

Ciulli hat die Idee des Reisens, die Migration und damit «einen weiterreichenden Dialog der Kulturen» zu seiner strukturbildenden Idee gemacht: «Die Bewegung, das Nichtverharren an einem Ort fordert Flexibilität und die Fähigkeit zur Improvisation und trägt wesentlich zur Finanzierung des Theaters bei», beschreibt er sein Theatermodell knapp auf seiner Homepage. Shermin Langhoffs Neuanfang am Berliner Maxim-Gorki-Theater macht jetzt wieder solche Hoffnung – und die, dass es nicht wieder für 34 Jahre die einzige Individualisierung einer relevanten «großen» Einrichtung bleibt, erwachsen aus einer kleineren, dem Ballhaus Naunynstraße.

Es mag der Fluch der Flüchtigkeit ihrer Kunst sein, der gerade Theatermenschen das Abgeben, Verwerfen und Neustarten ihrer Strukturen und Lieblingsideen so schwer macht, dass gerade im «Freien» Theater kaum ein Leitungswechsel ohne Not, Krise oder Kleinkrieg möglich scheint. Man ist halt wohl nie fertig? Ähnlich ist es in der Soziokultur. Aber es wäre so viel zu probieren und zu gewinnen, wenn mehr Verantwortliche wagen würden, irgendwomit aufzuhören und wirklich Neues zu beginnen: Ideen von einer Zukunft.

Warum gibt es immer noch kein/kaum Theater im digitalen Raum? Herbert Fritsch hat hier, mit Hamlet X und Elf Onkels, Pionierarbeiten geleistet. René Pollesch hat vor bald 20 Jahren im «Kleinen Fernsehspiel» des ZDF mit «Ich schneide schneller (soap)» TV-Theater gemacht – ob als ästhetische Form, Stoffentwicklung, zeitgemäße Hybridform oder Koproduktionsweise: Warum hat das niemand als Aufgabe auf (s)ein «Haus» übertragen? Manches Hörspiel ist heute theatralischer, dramatischer, lebendiger, authentischer als viele Bühnenspiele – warum gibt den Macherinnen niemand (s)ein gefördertes Theater? Der Dokumentarfilmer Andres Veiel hat als Autor und Regisseur seines Theaterstückes «Das Himbeerreich» am Deutschen Theater Berlin über deutsche Banker gesagt: «Ich habe die generelle Erfahrung gemacht, dass es immer schwieriger wird, an den Zentren der Macht dokumentarisch zu arbeiten. Durch zwischengeschaltete PR-Agenturen und durch ein gewachsenes Misstrauen gegenüber jeder Art von Transparenz ist das kaum noch möglich. Wenn es über die reine Selbstdarstellung von Erfolgen hinausgehen soll, wenn Entscheidungen hinterfragt oder wenn Machtzentren transparent gemacht werden sollen – dann merke ich, dass ich mit der Kamera dort nicht mehr reinkomme. […] ‹Das Himbeerreich› wäre dokumentarisch undenkbar gewesen. Niemand, der mit mir gesprochen hat, hätte das auch vor einer Kamera erzählt. Daher also ein Hoch auf das Theater – die Bühne ist genau der richtige Ort für diesen wichtigen Stoff.» Allein aus diesem Hinweis ließe sich mindestens ein weiteres Theater-Produktions-Team und -Haus grundsätzlich neu erfinden!

Die Herausforderungen in der Beziehung zwischen Literatur und Bühne liegen ja tatsächlich nicht darin, immer neue, nach jahrhundertealten Maßstäben «bühnentaugliche» Dialoge zu erfinden – sondern Theater als Format-Angebot für Autoren, als Portal für Wichtiges und Intensives zur Verfügung zu stellen, nutzbar zu machen. Für die, die etwas zu berichten, darzustellen, auszudrücken haben: Wissenschaftler/innen, Journalist/innen, Philosoph/innen, Biograf/innen, Aktivist/innen, Spezialist/innen – und Künstler/innen. Wie und wo, wenn nicht wenigstens im und mit Theater, sollen die unendlich vielen regionalen, sozialen, sprachlichen, fachlichen und globalgesellschaftlich ebenso risiko- wie innovationsträchtigen Parallelwelten miteinander verknüpft, verbunden, gedanklich und bildlich erlebt, sozial und psychologisch gelebt, ihre Soziolekte, Ethnolekte, Dialekte, Programmier- und Fachsprachen verständlich und durchlässig gemacht werden – im szenischen Verstehen, im Bilder-Finden, in direkter und immer interaktiver Live-Kommunikation?

Szenisches Verstehen, empathisches Erleben, eine Differenzierung von Glauben und Wissen, von Meinen, Kommentieren und Klicken sind unter die Räder einer rein sprachlichen, manchmal noch gedruckten, zunehmend digitalisierten Informations- und Wissensvermittlung gekommen. Diese Digitalisierung nicht nur als unhandliches Reklametool für Altes Theater zu verstehen, sondern als eigene Form eines Neuen Theaters, wäre ein weiterer lohnender Anfang. Das große neue digitale Gedächtnis hält genug vom Alten fest.

Es könnte jetzt mal wieder jemand aufhören, sein Lebenswerk und seinen Erbhof zu retten, #Regietheater und #Werktreue zu debattieren – und riskieren, (sich) Raum und Zeit und Hirn und Geld für Neues zu geben und zu nehmen.

Carsten Werner, April 2014

 

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Nachtrag, Herbst 2014:

oder so?

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Stadtteilbesuch der Grünen bei den Privattheatern in der Bremer City

In Ideenwirtschaft, Kunst, Stadt on 19. April 2012 at 19:41

Mit der „Schaulust“ am Güterbahnhof, dem Figurentheater „Mensch, Puppe“ in der Schildstraße, dem „Fritz“ am Herdentorsteinweg und dem „Bremer Kriminaltheater“ in der Friesenstraße sind in der jüngeren Vergangenheit gleich vier neue Theater direkt in der Bremer City gegründet worden. Ralph Saxe, wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen-Bürgerschaftsfraktion, und der kultur- und stadtentwicklungspolitische Sprecher Carsten Werner haben die Privattheater in der Bremer City – neben den neuen auch das Theaterschiff Bremen und das Musicaltheater – im Rahmen eines Stadtteilbesuchs besichtigt und mit deren Leitungen über ihre Situation gesprochen.

Wichtige Impulse fürs Stadtmarketing und die freie Theaterszene

„Hier ist, von Politik und Verwaltung fast unbemerkt, eine kleine eigene Branche entstanden, die Bremen als Kulturstadt und Standort der Kreativwirtschaft gut steht und gut tut“, fasst Ralph Saxe die Eindrücke zusammen: „Je mehr Angebote Bremen bieten kann, desto attraktiver wird die Stadt für Besucher von nah und fern.“ „Besonders beeindruckt hat mich, dass die Theater sich gegenseitig und auch die öffentlich geförderten Theater in direkter Nachbarschaft nicht als Konkurrenz, sondern als Belebung im kreativen Wettbewerb und als Bereicherung des Theaterstandortes insgesamt sehen“, freut sich Carsten Werner. Die Betreiberinnen und Betreiber der „Schaulust“ sehen sich gar nicht zuvorderst als Veranstalter, sondern bieten privat-gemeinnützig wichtiges KnowHow, wichtige räumliche und technische Infrastruktur für Solisten, StraßenkünstlerInnen und andere Gruppen der freien und der kommerziell arbeitenden Performance- und Theaterszene. Überhaupt werden die langjährigen Erfahrungen des Musicaltheater Bremen und des Theaterschiffes werden dabei durch die Neugründungen um neue Facetten, Ideen und Geschäftsmodelle ergänzt. „Da die Betreiberinnen und Betreiber dabei neben ihrer künstlerischen Mission auch persönlich einigen wirtschaftlichen Mut aufbringen, unterstützen wir sie gerne bei ihren Bestrebungen für eine gemeinsame Kommunikation und öffentliche Wahrnehmung ihrer Angebote“, ergänzt Ralph Saxe. Die rot-grüne Koalition hat sich festgelegt, Privattheater nicht mit öffentlichen Mitteln zu bezuschussen. „Selbstverständlich freuen wir uns aber sehr, dass die Theater zum Image Bremens und zur Aufenthaltsqualität und kulturellen Vielfalt in Bremen unterhaltsame Beiträge leisten“, findet Carsten Werner.

Ideen für gemeinsamen Auftritt

Die beiden Abgeordneten der Grünen unterstützen daher die in einem ihre Besuche abschließenden Rundgespräch entwickelten Ideen für gemeinsame Marketingaktionen. Knut Schakinnis, Betreiber des Theaterschiffes und als neuer privater Betreiber des Packhaustheaters im Gespräch, schlug eine gemeinsame Bremer Theater-App vor, die Spielpläne, Zusatzinformationen, Videos oder Songs und vor allem auch Ticketbuchungen für alle Bremer Theater per Mobiltelefon zugänglich macht. Christopher Kotoucek und Tim Kulke, die Betreiber des „Fritz“ am Herdentorsteinweg, regten ein gemeinsames Festival an. Carsten Werner regte an, diese Idee möglicherweise sogar auf alle Theater auszudehnen und analog zu dem erfolgreichen Angebot der Museen eine jährliche „Lange Nacht der Theater“ zu initiieren: „In der Bremer Theaterszene ist viel Aufbruch, dazu wird auch die Neuaufstellung des Bremer Theaters beitragen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass Bremen als Theaterstadt auch überregional wieder mehr und besser ins Gespräch kommt. Das sollten wir rechtzeitig auch im Stadtmarketing deutlich machen.“

Neben den eigentlichen Veranstaltungen ist dies auch eine Aufgabe für die Printwerbung der Bremer Wirtschaftsförderung, waren sich die privaten Theatermacher einig. Sie forderten eine angemessene Einbeziehung in die Kultur-Wegweiser-Systeme der Stadt – in Tourismuspublikationen, im Internet und ebenso auf entsprechenden Beschilderungen, betonte Eggert Peters vom Theaterschiff. Carsten Werner unterstützt diese Forderung: „Alle Veranstalter in Bremen gemeinsam machen das Angebot und einen besonderen Reiz der Stadt aus; die Breite des Angebots ist unser Pfund und das Publikum aus Bremen und dem Umland, vor allem aber Bremen-Touristen interessiert ja höchstens am Rand, ob und wie viel Förderung das Haus erhält, in dem sie tolle Inszenierungen, Schauspiel und Musik erleben.“ Deshalb wollen sich Saxe und Werner sowohl in der Kultur- als auch in der Wirtschaftsdeputation dafür einsetzen, dass alle Kulturanbieter gemeinsam und gleichberechtigt beworben werden. „So würden wir an die kleinen Unternehmen ein Stück ihrer Leistungen für das Image Bremens zurückgeben und die Aufmerksamkeit potenzieren“, ergänzt Ralph Saxe.

Geplant sind derzeit ein Kulturkalender, ein Theaterführer, ein zentraler Ticketservice und eine verbesserte Kulturwerbung im Rahmen des geplanten Relaunches von bremen.de. „Ich hoffe, dass wir an der Entwicklung dieser Maßnahmen die Bremer Kreativwirtschaft mit ihren lokalen Kompetenzen aktiv beteiligen können – das wäre ein weiteres Zeichen des Zusammenhalts und ein toller Synergieeffekt“, findet Carsten Werner.

Die beteiligten Theatermacher haben sich nach dem Besuch der Grünen gleich zu weiteren Gesprächen und Aktionen verabredet. Auch die beiden Abgeordneten wollen sich regelmäßig mit ihnen treffen und austauschen – auch in einem erweiterten Kreis, um weitere Kulturakteure und Politik miteinander ins Gespräch zu bringen, füreinander zu sensibilisieren und Formen der Zusammenarbeit zu etablieren.

 

Schlingensief-Hype

In Kunst on 21. Dezember 2010 at 23:55

cwerg hat sich über die Einstapelung von Schlingensiefs letztem Buch unter „Gesundheit | Alternativ Heilen“ im Kulturkaufhaus bei parallel völlig versprengter Einstaubung seiner DVDs unter „Special Interest“, „Doku“ und „Trash“ noch mal sehr geärgert:

Beides zeugt jedenfalls von einem doppelten Unverständnis für diesen Künstler (mindestens bei den Verkäufern).

– Und zeigt das auch, dass für seinen späten „Erfolg“ dann wohl doch vor allem viel melancholische Jahreszeitbefindlichkeit oder einfach Tränendrüsenempfindlichkeit – also eben auch leider eher: DIE KRANKHEIT und UNSERE ANGST davor – entscheidend waren als dass ihm Interesse oder gar Erkenntnis/Verständnis/Empathie gefolgt wären?

Das wäre schade und ist doch wahrscheinlich so …

Liebesbrief … an den Nacktclown

In Kunst on 24. März 2008 at 22:59

Technische Leiter und Theaterdirektoren erleben Dich immer zwiespältig: Wenn die Bühne brennt, Dosen und Flaschen explodieren oder die Fliehkräfte mit Hilfe von Waschmaschinen und rotierenden Klavieren provoziert werden, zucken das auf Sicherheit oder wenigstens Überleben bedachte Herz und der die Verantwortung dafür tragende Kopf im Takt, einerseits. Andererseits ist bewundernswert, wie virtuos Du Physik und Kraft, Illusion und „Reality“ beherrschst, wie Du sie dehnst, mixt und überlistest.

Das Publikum liebt Deinen Körper, der alles mitmacht, was Du behauptest und zuendebringt, was Du beginnst: Ob im perfekt sitzenden Anzug, bewaffnet mit Gesetzbuch, Kamera, Fahne und Paella im Kampf für das Ansehen der Malloquiner und gegen „Bild“ und dessen Chef Kai Diekmann – oder nackt bis auf ein paar Federn auf dem Bremer Buntentorsteinweg zwischen Straßenbahnen und kläffenden Hunden. Du lässt ihn bluten – für den großen Effekt und ein bisschen Applaus.

Du gehst den Leuten an den Kragen, an die Wäsche, ans Gewissen. In echt und ohne doppelten Boden. Wer die eitelteure Markenklamotten trägt, wird nicht nur verachtet – sondern geheilt. Wenn Du sagst: „Es knallt!“ – dann knallt das. Du hast Thomas Gottschalk und sein ZDF zur Weißglut getrieben, als sie Deine geliebte Insel besetzt haben. Wer könnte das, „Wetten, daß …?“ verhindern, wenn nicht Du, Leo Bassi, großer Clown, nackter, alter, blitzschlauer, gefährlicher Mann! Jetzt hast Du es auf die Religionen abgesehen. Das freut viele nicht: Sie bedrohen und bekämpfen Dich. Denken und Lachen – die explosive Mischung scheint einigen zu gefährlich zu sein. Wie gut.

Leo Bassi: Am 3., 4., 6. 4. in der Stauerei

Maßstab über Bord!

In Kunst, Stadt on 2. Juli 2007 at 00:01

Die Ära Pierwoß geht zu Ende, eine neue ist noch nicht in Sicht: Was bleibt?

Am Anfang war die Ära: Gleich zu seiner Vorstellung wollte Kultursenatorin Helga Trüpel die „Ära Pierwoß“ starten – ein bisschen voreilig, fand ich. Aber nun ist es ohne Frage eine geworden: Klaus Pierwoß hat in 13 Jahren Bremen verändert – das Theater, die Kulturlandschaft, die Streitkultur. Und jetzt wird er hier also fehlen.

Klaus Pierwoß hat – das unterscheidet ihn schon einmal von seinem jetzt antretenden Nachfolger Hans-Joachim Frey – allzu große Vorankündigungen und Zukunftsprognosen meistens vermieden. Stattdessen wurden, jedenfalls hält sich das Gerücht hartnäckig, auf dem Fußboden des Intendantenbüros Spielpläne geklebt – grafisch einfach, inhaltlich überbordend, dispositorisch hochkomplex. Theaterstars und Auslastungszahlen wurden erst gefeiert, wenn sie denn da waren. Und weil Klaus Pierwoß mindestens so gerne feiert wie streitet, wurden Erfolge zu Partys – und auch die Partys zu Erfolgen: Dass die Lust am gemeinsamen Fest zur Kultur der Stadt gehört, dass auch Feste eine besondere Qualität haben müssen, dass nach mühsamen Verhandlungen und Auseinandersetzungen auch im kleineren Kreis gefeiert werden soll, hat der Theatermann uns Bremern wieder klargemacht.

Künstler in die Politik!

Weil die Politik keine ernsthafte Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur mehr bot, machten Klaus Pierwoß und Katrin Rabus mit ihrer verdienstreichen Initiative „Anstoß“ selbst Kulturpolitik: Die beiden setzten Themen, spannen Netzwerke, stießen an in allen Sinnen dieses Wortes. Dass diese Arbeit irgendwann ein überraschendes, fast abruptes Ende fand, mag an einem Generationswechsel liegen – sicher aber auch an Entsolidarisierung und dem Einzug von Unehrlichkeit, Politik und übermäßigem so genanntem „Controlling“ in die Szene; bis heute haben viele dazu kein eigenes Verhältnis gefunden.

Wenn Pierwoß – für sein Theater, für die ganze Szene, für einzelne kleine Einrichtungen – in die kulturpolitische Schlacht zog, bekam das manchmal rituelle Züge. Woran die immer und immer wiederkehrenden Attacken und Schwierigkeiten immer und immer wieder neu dahergelaufener Kultursenatoren ihren Anteil hatten – aber auch der sichere Instinkt und die Kunst der Inszenierung, die der im Theater selbst nicht regieführende Intendant perfekt beherrscht. Wenn Pierwoß Unehrlichkeit im kulturpolitischen Geschäft nur witterte, Verlässlichkeit vermisste, war er auf den Barrikaden. Für uns alle. Wenn sich dagegen in Anstoß-Debatten gelegentlich Unklarheit und politsprecherische Rhetorik breit machten, Interessen undeutlich oder gar Anflüge von Opportunismus ahnbar wurden – dann konnte Pierwoß bemerkenswert schnell und sichtbar ab- und auf Durchzug schalten.

Als sich im Sommer 2004 die Hansekogge von Bremen auf den schifffahrtstechnisch abenteuerlichen Weg bis zum Berliner Dom machte, um dorthin Bremens vergebliche Bewerbung um den Titel einer Kulturhauptstadt zu überbringen, hatte das Segelschiff zwei Kapitäne: Dieter Stratmann, der die Wasserstraßen kannte und beherrschte – und Klaus Pierwoß, der den Überblick übers große Ganze hatte. Er organisierte mit dem Handy Mitreisende, Radio- und Fernsehsendungen von Bord, besten Wein zur Nacht, Hotelzimmer in der ostdeutschen Pampa, Fußballübertragungen an frischer Luft im Gewittersturm – und managte ganz nebenbei per SMS noch Griechenlands Europameisterschaftssieg mit Otto Rehhagel. So skeptisch er das Projekt „Kulturhauptstadt“ beäugte, so fanatisch und liebevoll betreute Pierwoß die Kogge und ihre aus Seeleuten und Künstlern, Jungen und Alten bunt gemixte Mannschaft.

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Kapitän mit Weitblick und Feierlaune

Wie der Kapitän stundenlang allein vorn auf dem Schiff in die Landschaft guckte, sondierte und dachte – das war für mich das eindrucksvollste, schönste Bild dieser Ära. Jenseits allen Zaubers und Gebrüll.

Ob jetzt in Bremeneine neue „Ära“ beginnt, steht in den Sternen: Helga Trüpel ist schon lange nicht mehr Kultursenatorin und ihr Nachfolger Jens Böhrnsen wird so eine gewagte Prognose noch nicht wagen. Aber fürs Theater, für die Streitkultur und gute Feste haben wir jetzt, das war vor 13 Jahren anders, einen Maßstab.

Danke, Klaus Pierwoß!
Alles Gute, ciao, bis bald!

Frey? Bullshit!

In Kunst, Politik on 15. Mai 2006 at 22:35

Substanzlose Stichwortsammlung

Senator Kastendiek lobt seinen „Blick für Management und Sponsoring“, die Staatsrätin die feinen Manieren. Auf der künstlerischen Seite läuft es noch nicht so rund: Er habe sich bei der Suche nach einer Schauspieldirektorin nur „Körbe geholt“, gesteht Hans-Joachim Frey freimütig. Fürs Tanztheater sucht er was „in der Mitte“ zwischen Choreografischem Theater und „Nussknacker“. Seit einem Jahr als Pierwoß-Nachfolger im Gespräch, hat Frey sich bis heute nicht mit beeindruckenden Namen oder Themen verbinden können. Agiert so ein PR-Profi?

Jetzt hat er ein „neues Theatermodell“ entwickelt. Doch schon einmal sollte das Theater per Star-gestütztem Semi-Stagione-Koproduktions-Betrieb saniert werden: Hansgünther Heyme startete vor 15 Jahren als Bremer Intendant mit Gudrun Landgrebe als „Tochter der Lüfte“, halbierte ratzfatz die Auslastung und wurde als „Herr der Windmaschinen“ verspottet und dozierte, „das Teure am Theater ist das Spielen“. Nach zwei Jahren war das Geschichte.

Im März vor Spielzeitbeginn den Spielplan zu veröffentlichen – das ist Usus aller Theater seit anno dunnemals. Frey will damit zur Internationalen Tourismus-Börse, doch die Bus- und Reiseunternehmer interessieren sich nur für die übernächste Spielzeit. Ein „Education-Schwerpunkt“ klingt super für eine Stadt, in der Schüler, Lehrer und Politiker nicht einmal „Bildung“ richtig schreiben oder gar mit Kultur verbinden können.

„Die Selbstverständlichkeit, mit der bis vor einigen Jahren Kultur und Theater rezipiert worden sind, nimmt ab“, behauptet Frey. Volkswirtschaftler und Arbeitsmarktexperten sind sich einig, dass es genau anders herum ist; die Bundesregierung spricht vom „Kulturbetrieb als Wachstumsbranche“.

Frey will es – abgekoppelt von Finanzdebatten, Inhalten, Personalien – jedem Recht machen. So sampelt er „das Beste der 80er und 90er“ aus simplen Kulturmanagement-Workshops. Mit einer so substanzlosen Stichwortsammlung wäre beim Bremer Kultursenator nicht mal eine Projektförderung zu erhaschen. Im Suhrkamp-Verlag ist zu diesem Phänomen gerade ein lesenswertes Büchlein des Philosophen Harry G. Frankfurt erschienen: Es hat 72 kleine Seiten, kostet 8 Euro und heißt „Bullshit“.

Carsten Werner (freier Produzent, Kulturmanager und Regisseur)

15.5.2006 taz Nord Nr. 7971 Bremen Aktuell 78 Zeilen, S. 24

Theater oben mit

In Uncategorized on 28. August 2002 at 10:07

Neues Boulevard-Theater geht baden / Ein Public Private Partner-Ship wird am 30. November an der Schlachte festmachen / Als Schauspieler stehen parat: Ingrid Steeger und Günther Mack

Die Politiker wünschen sich sowas ja immer lauthals: „Public private partnership!“ Es hat also geradezu Vorbildcharakter, was Knut Schakinnis da plant. Er will Bremen ein neues Theater bescheren. Nicht in leer stehenden Gemäuern am Rand der City, sondern in 1-A-Lage. Gleich auf dem Wasser der „Stadt am Fluss“ soll sein Theaterschiff anlegen und mit „leichter Kost“ von allerdings „hoher Qualität“ die Massen locken.

Das muss es allerdings auch. Denn von der Stadt gibt es nicht allzuviel „partnership“: Kulturverwaltungschef Reinhardt Strömer bat vor einem Gespräch erst einmal um die Zusendung eines Lebenslaufes des 47-jährigen Existenzgründers, wie Schakinnis etwas belustigt erzählt: „Dabei kenne ich den doch auch nicht!“ Danach hat Strömer sich nie wieder gemeldet – und die Wirtschaftsbehörde abgewunken. Schakinnis: „Weil sie im Kulturbereich keinen Präzedenzfall schaffen wollte.“ Aber tut sie das nicht laufend?

Die Sponsorensuche erweist sich in Zeiten wirtschaftlicher Flauten und Pleiten als schwierig. Zeit für Ideen. So bietet Schakinnis dem geneigten Theaterfan für eine Spende von 2.300 Euro an, für drei Jahre sein Engagement dokumentieren zu lassen. Die Künstler Hartmut Knell und Gerhard Bär stellen dafür Stühle nach den Designwünschen des Sponsors her. Nach drei Jahren bekommt der Spender seinen Stuhl mit nach Hause, auf dem Theaterschiff ziehen dann neue Sponsoren samt Mobiliar ein.

„Die Stücke müssen laufen“, sagt er und trommelt drei Mal auf den Holztisch seines kleinen Büros in der Weberstraße. Denn noch liegt sein Schiff nicht an der Schlachte, sondern wird im Hafen mit 300.000 privat von Spendern und Sponsoren finanzierten Euro für seinen Spezialeinsatz hergerichtet. Zwei Spielstätten entstehen im Bauch des 77 Meter langen und acht Meter breiten alten Schleppkahns (Baujahr 1925). An Deck soll es gastronomisch zugehen. Dazu kommen eine Künstlerwohnung, ein kleines Büro und die entsprechende Technik. Der laufende Betrieb muss sich später aus dem Kartenverkauf finanzieren.

In Bremen sieht Schakinnis ein „ausbaufähiges Potenzial als Theaterstadt“. Er muss es wissen: Seit zwölf Jahren lebt er in der Hansestadt.

Eröffnung des Theaters soll am 30. November an der Schlachte sein. Bis dahin kann sich der Selfmade-Mann auf Erfahrungen mit dem Theaterschiff Heilbronn stützen und will seine umfangreichen Kontakte in der Unterhaltungstheater-Szene nutzen. Von Siegfried Lowitz und Günther Mack bis zu Ingrid Steeger, mit allen hat er auf der Bühne gestanden. Jetzt will er die Kollegen nach Bremen locken. Für Ingrid Steeger wird zur Eröffnung der zweiten Spielzeit im nächsten Sommer eigens ein Stück geschrieben – von einem Bremer Autor.

Zuvor gibt’s ab dem 4. Dezember „No(n)nsen“, ein kleines Comedy-Musical von Dan Goggin. Die Komödie „Vom Umtausch ausgeschlossen“ steht ebenso auf dem Programm wie drei Einakter von Anton Tschechow, gespielt von Günter Mack, Ulrike Luderer und Knut Schakinnis. Auf die Erfolgskomödie „Cash“ folgt im nächsten Sommer die 70er-Jahre Revue „Hossa oder Als Robert Lemke nicht kam“.

Zudem will Schakinnis auch mit der Bremer Theaterszene zusammenarbeiten. Das Union-Theater wechselt im März mit einem einmonatigen Gastspiel vom Packhaustheater auf die Weser. Weitere Kooperationen sollen folgen.

Warum aber ein Theater auf dem Wasser? Neben den atmosphärischen hat es auch monetäre Gründe. Ein Schiff, wenn es nicht mehr fährt, gilt als „schwimmender Gegenstand“. Die Liegegebühr dafür beträgt im Jahr nur ein paar tausend Euro. Auch das Schiff selbst hat in der Anschaffung nur etwa 30.000 Euro gekostet.

Trotzdem will und muss Schakinnis darauf achten, das wirtschaftliche Risiko klein zu halten. Boulevard-Komödien sollen Boulevard-Komödien bleiben. Die Kunden schätzten das: ,,Schon jetzt fragen die Hotels nach Karten.“

Zur Zeit castet Schakinnis sein Team. Und wünscht sich auch noch einen Manager-Partner. Denn er wolle ja in Bremen sesshaft werden, um auch mehr mit der Familie zusammen zu sein. Seine Frau Bettina erwartet Zwillinge. „Vielleicht hat sich der liebe Gott gedacht: Mal gucken, was die alles auf einmal schaffen“, freut sich der Vater, Schauspieler und jetzt auch noch Theaterdirektor auf seine neuen Herausforderungen – toi toi toi!

Carsten Werner

Das Theaterschiff im Internet: www.theaterschiff-bremen.de, Infos unter 0421 / 7908600.

28.8.2002 taz Bremen Nr. 6838 Kultur 163 Zeilen, Carsten Werner S. 23

Addition der Schlagzeilen

In Uncategorized on 4. Mai 2002 at 09:05

Literatur-Performance: Nina Bittcher und Lucia Meinhold verheddern sich beim „Gudrun Ensslin-Monolog“ im Spektakulären und verklären die Erinnerung

Die RAF ist hip – zu Moden geronnene History, davon berichten die Zeitgeistpostillen seit Monaten fasziniert bis angewidert. Was also erwartet uns, wenn junge Leute sich Gudrun Ensslin nähern, der jungen, wunderhübschen Terroristin mit dem kräftigen Lidstrich?

Wir wissen ja nicht, was Ensslin wirklich dachte und machte in Stammheim (und davor). So redegewandt, schreibwütig und medial omnipräsent wie die Journalistin Ulrike Meinhof war sie nie. Wohl eher die „jugendliche Rätselhafte“ im Ensemble der deutschen Topterroristen, wenn man das heute so flapsig sehen darf – „Ihr letzter Wunsch galt der Wimperntusche“, angeblich.

Christine Brückner legte der Ensslin 1983 in ihrem Buch der „ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen“ posthum Gedanken und Sprüche in den Mund, eine „Rede gegen die Wände der Stammheimer Zelle“. Diesen Text nutzen die junge Regisseurin Nina Bittcher und ihre junge Schauspielerin Lucia Meinhold für ihre „Literatur-Performance“ einschließlich Videoinstallation, die sie in der Medien-Koop im Lagerhaus aufführen.

In einem wenige Quadratmeter großen Gaze-Käfig kauert oder tigert hier die junge Terroristin und hält diesen inneren (?) Monolog. Darin eine Menge knalliger, feuilletonistischer Formulierungen, ein wenig Familiäres, ein bisschen Politik- und Staats-Kritik, eine Prise Selbstironie, ein Schuss Galgenhumor. Hypothetisches „Was wäre gewesen, wenn …“ und semidokumentarisches „So wird es vielleicht gewesen sein“, anno dazumal in Stammheim.

Auf die Gazeflächen wird per Video von einer Seite das abgefilmte minimalistische Bühnengeschehen gebeamt, von der anderen Seite flimmern nonstop und von den Künstlern unbearbeitet Best-of-RAF-Schnipsel aus ARD-Archiven: altbekanntes, viel- und gerngesehenes Material aus dem deutschen Bürgerkrieg der 60er und 70er, als Horst Mahler noch ein linker Terrorist war (oder so), viel Meinhof und weniger Ensslin, BILD-Schlagzeilen aus Absurdistan („Hamburg: Polizei erschoss falsche Ulrike Meinhof“), viel Disput, Gerenne, Geschiebe und Geschieße …

Den ikonenhaften Porträts der Jungterroristen stehen Bilder gegenüber, die zeigen, wie hässlich Kampf und Politisiererei schöne junge Menschen machten: „vorher / nachher“. Das wäre ein Ansatz für die theatralische Auseinandersetzung, hätte vielleicht die Chance geboten, „Gudrun nah zu sein“, wie es sich ein Zuschauer gewünscht hätte: „Was war sie, was wollte sie?“

Doch die junge Darstellerin wirkt eher leidend denn gefährdet und kämpferisch – und Brückners in die Jahre gekommener Text verschwindet in der einstündigen Aufführung hinter den Videobildern. So entstehen weder Bezug noch Reibung zwischen TV-Memorabillia und Theater-Fiktion.

Was sind die 12 Mio. DM, die der Stammheim-Bau kostete, im Verhältnis zu den Millionen, die Springer (und Kulturindustrie) der RAF verdanken? Da Politik schließlich „im Gerichtssaal, im Bett, im Kindergarten“ stattfinde, überall wird „unterdrückt, gefoltert, Macht ausgeübt“: Wie war die Liebe zwischen Ensslin und dem „durchgeknallten Literaten“ Bernward Vesper? Politische Kriminalität vs. kriminelle Politik … Alles wird angerissen, nur die Inszenierung verheddert sich in der Addition von Spektakulärem und Spekulativem. „Gequassel in Bildern und Gleichnissen“ nennt das die Protagonistin mal.

„Kein Denkmal für Gudrun Ensslin“, hatte Brückner ihren Text übertitelt. Die Inszenierung verharrt in verehrender, verklärender Erinnerung.

Carsten Werner

Noch am Samstag, 4.5., in der Medien-Coop im Lagerhaus, 3. Stock. Karten unter Telefon 0421-77020

4.5.2002 taz Bremen Nr. 6741 Kultur 54 Zeilen, Carsten Werner S. 27
Rezension

Mohikaner, allein zu Haus

In Uncategorized on 24. April 2002 at 10:03

„Die letzten sind wir!“

Trotz Schwund an Kollegen und Illusionen spielt das Antigone-Theater weiter. Bis zur theatral-konsequenten Privatheit fehlen aber noch ein paar Schritte

Die Schauspielschule am Waldau-Theater ist Geschichte, aber in jedem Ende liegt ein Anfang.

So gründeten die ehemaligen Schüler mit ihrem Lehrer, dem Regisseur Jürgen Müller-Othzen, vor knapp drei Jahren das „antigone theater“. Die Truppe näherte sich ihrer Namenspatronin aus ganz verschiedenen Richtungen. In einem „work in progress“ gab es Antigone grotesk: Als Streetperformance und in einem großen, inszenierten Abschiedsfest-Theater mit und von den SchauspielerInnen, ihren Figuren und dem Publikum.

Vor einem Jahr emanzipierte sich die Truppe vom Antigone-Stoff und auch vom Regisseur – und eröffnete mit einer grotesk verträumten „inner city midsummer night“ Müller-Othzens Wohnzimmer-Theater „the most little private“ in Findorff. Man suchte unterhaltsam und poetisch Halt und Sinn und Kunst in dieser Wohnung. Gegen Ende wagten sich die Figuren wieder tastend auf die Straße, verließen Bremens jüngstes Theaterchen – auf dem Weg in die nächste (Theater-)Welt?

Heute sitzen hier noch Henriette Hensel-Knipp und Peter Almendinger, zwei letzte Mohikaner der Schauspielkunst, allein zuhaus. Am Wochenende hatte ihr neues Stück Premiere: „Die Letzten sind Wir!“ Sie können das Spielen nicht lassen, auch wenn sie von allen Kollegen und Illusionen schon verlassen sind.

Das ungleiche Paar – sie könnte seine Mutter sein – kabbelt sich durch einen Wust aus Erinnerungen und Zitaten, Theatergeschichte(n) und sozialhilfefinanziertem Alltag. Er wäre gerne Faust, sie röhrt kinskische „Erdbeermund“-Zeilen, er legt selbst beim Sex den Künstler-Seidenschal nicht ab, sie serviert den Cappucino in der Espresso-Tasse und zu heiß und repetiert „Antigone“: „Drehung nach links, Maske quer-links / Kopf an Kinn auf Brust / höchste Intensität!“ Auch das Publikum gehört zur Imagination.

Auf dem Programmzettel: Kein Autor, kein Regisseur, keine Rollen, keine Darsteller – könnte es sein, dass wir da in der Münchener Straße in das Privatleben abgehalfterter Möchtegern-Stars gestolpert sind? Nach der Aufführung erzählt Almendinger, dass das Projekt schon „ein bisschen autobiografisch“ sei. Weiter schrumpfen kann ihr „Antigone-Theater“ jedenfalls nicht mehr. Tagsüber arbeitet er als Physiotherapeut, seine Partnerin als Lehrerin, bevor sie abends selbstorganisiert, -geschrieben und -inszeniert „halt als Laientheater“ auf die Bühne steigen.

Das jedenfalls macht ihnen sichtbar Spaß, sie wollen weiter an ihrem Stück arbeiten. Wenn sie dabei den Mut hätten, viel offensiver und verwirrender mit der Grundsituation „Wohnzimmer gleich Bühne“ umzugehen, könnten sie aus dem vom Publikum erstaunlich distanzierten Geschehen noch manchen witzigen oder tragischen Funken schlagen.

Die zum Mini-Theater drapierte Bühne, die boulevardesken Kostüme und Möbel, die verhängte Einrichtung der Wohnung und die obligatorische Publikumsermahnung zum Handy-Abschalten beschwören viel zu viel Hochkultur, statt Nähe und – so der Untertitel des Stückes – einfach „Intimität“ zuzulassen. Selbst die rumpelnden Nachbarn und auf der Straße quatschende Passanten werden in solcher Heiligkeit zum Störgeräusch. Dabei könnten sie ein wunderbarer Soundtrack sein für diese „real soap“ …
Carsten Werner

Weitere Vorstellungen an den kommenden beiden Wochenenden, jeweils Freitag und Samstag um 20 Uhr im „most little private“, Münchener Straße 47. Vorbestellung unter Tel.: (0421) 794 98 01 erforderlich.

24.4.2002 taz Bremen Nr. 6733 Kultur 52 Zeilen, Carsten Werner S. 23

Weltwut & Körperflüssigkeit

In Kunst, Werner on 18. Dezember 2001 at 23:55

von cwerg @ 2001-12-18 – 23:55:20

Ben Becker mit Klaus Kinski on Tour

Schon Klaus Kinskis jugendlicher lyrischer Auswurf voll Weltschmerz, Weltwut und wahrer Körperflüssigkeitenflut kündet von einem intensiven, scheinbar egomanen Maniac: „Die Menschen sind bis tief ins Herz verhurt! / was wollten sie von mir! ich hatte nichts getan!! / ich hatte nur mein Leben durchgerissen, / weil sie mir Eiter in die Seele pissen!! / ich krümmte mich unter der Nachgeburt, / die mir im Wirbel flattert wie ein irrer Hahn“ – heißt es im Gedicht „Irrenhaus“.

Der Jungschauspieler Kinski, mit 26 Jahren noch still, prüde, sanftmütig, „reißendes Lamm unter Wölfen“, kümmerte sich 1952 rührend um eine todkranke, sechzehnjährige Geliebte. In diesen wenigen Wochen soll er vehemente und metaphernreiche Wortkaskaden rauschhaft niedergeschrieben haben, die erst jetzt unter dem Titel „Fieber – Tagebuch eines Aussätzigen“ erschienen: Seit 1953 waren Geliebte und Gedichtetes verschwunden, nie erwähnt.

Zum Gedicht-Bildband gibt es ein Hörbuch: Der Schauspieler Ben Becker und Alexander Hacke, Kopf der „Einstürzenden Neubauten“, haben sich Kinskis „Weltirrsinn“ und weiterer Texte angenommen. Hacke hat aus Alltagsgeräusch und Allerweltsrauschen, aufgenommen im und ums Krankenkaus, sinnige Klangteppiche gesponnen. Becker horcht, spürt und schmeckt den genialischen Ergüssen Kinskis ironiefrei nach. Die Performance zum Hörbuch gab es jetzt live im Theater am Goetheplatz: die Musiker Ulrik Spies (Percussion) und Jacki Engelken (Elektronisches) erweitern oder verstärken Hackes Klangkunst mit einigen Live-Zutaten, Ben Becker gibt vor jugendlich gefülltem Haus den Kinski.

Oft unsensibel laut und basslastig verstärkt, wühlt er sich durch Wortmassen und Bildungetüme – mit argem Druck: So beeindruckend die errungenen Höhepunkte sind, wenn er schreiend und zugleich staunend zu Kinski-Becker verschmilzt, so anstrengend ist live dieser Weg entlang der Grenze zur Parodie. Das wird dann auch mal unfreiwillig komisch geknödelt: „Ich bin ein Mutterkuchen!“ – Naja. Bisscken dicke!

Das ist schade, weil Ben Becker – nicht nur im Hörbuch – auch ganz anders kann: Wenn er nicht wie Kinski klingen muss, sondern bei sich und seiner Musikalität bleibt, gelingen wunderschöne Hörkunststücke:

Ganz klar feiert er dann den „Jazz!! / Unsterblichkeit der Nerven!!“ – oder musiziert den „Orient: Komm! amoktoller Mohn! / Komm! Lustbesautes Bett! / … / Ich seh auf Deinen scharfgeschliffnen Brüsten / den blutgeflammten Schaum des Himmels winken! / Komm! laß und schnell zusammenrasen / Blut in Blut!!“. In manchen Momenten reichen ein Paar Gummihandschuhe an Musikerhänden, ein paar stille Tanzschritte oder fahles Neonlicht, um Kinskis wilden Worten Bilder zu geben, einfach und gut. Dann ist Ben Becker vielleicht bei Kinski, bei dessen großem Porträt auf der Bühne er sich immer wieder rückversichert.

Abschied: „Ich richte mich auf – ganz steil – wie es Baeume tun, wenn sie wissen, daß es Zeit zum Sterben ist – – – ich muß weg von hier!!“ – und Becker/Kinski geht.

19.12.2001 taz Bremen Nr. 6630 Kultur 45 Zeilen, S. 23

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