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Die Kunst des Aufhörens

In Ideenwirtschaft, Kunst, wörtlich! on 10. Mai 2014 at 20:12

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Dieser Artikel ist ein Beitrag zu der Publikation „Brennen ohne Kohle“ der Böll-Stiftung, die hier bestellt oder als E-Book heruntergeladen werden kann. 

 

 

 

Wie schließen?

Mich nerven Leute, die aus Angst stehengeblieben sind,
obwohl sich die Welt um sie herum längst verändert hat.

(Peter Zadek)

Die anmaßende, überhebliche, unsinnliche und oberlehrerhaft arrogante Tonlage der «Kulturinfarkt»-Anstifter hat die Frage für Jahre frisch zum Tabu betoniert: «Wie schließen?» Ein kulturpolitisches No-Go also. Die Debatte wurde gar nicht erst politisch – sondern abgedrängt ins Feuilleton und entsprechend hysterisch, schrill und erratisch verhandelt; so gab es auf eine richtige Fragestellung nur vielzuviele vorlaute, vorschnelle Antworten, Geschrei; Tenor: Wir lassen alles so, wie es ist. Weil, so war es schon immer. Kulturfeinde! Freiheitsfeinde! Und: «Et hätt noch immer jot jejange!» (Wie man in Köln sagt.)

Kurz vorher noch hatten wir uns und der Kultur kühn in den rot-grünen Bremer Koalitionsvertrag geschrieben: «‹Altes› muss sich verändern und ‹Neues› muss in einer sich wandelnden Gesellschaft Räume und Ressourcen erobern können. Gerade auch zeitlich befristete Projekte können erhebliche Impulse für die Kultur- und Stadtentwicklung geben, ohne institutionalisiert werden zu müssen» – durchaus im Bewusstsein, dass solche Ermöglichung, Erneuerung nicht ohne Einschränkung geht. «Wie schließen?» wollten wir schon da lieber nicht fragen. Denn es können Mauern und Ideologien zusammenbrechen, Berufe vergehen und Wirtschaftszweige – in der Kulturförderung ist ein Schluss tabu.

Seit den 1970er Jahren bis heute boomt die Kultur in Deutschland – wo noch vor 40 Jahren pro Stadt 1–2 Theater, 1–2 Museen und 1–2 Bibliotheken die kulturelle Grundversorgung leisteten, sind ganze Industriezweige wie die Kreativwirtschaft mit Pop-, Medien- und Netzkultur hinzugewachsen, kulturelle Aufgaben und Beschäftigungsfelder wie die kulturelle Bildung und die integrierte Stadtentwicklung neu entstanden. Und vor allem ist eine Freie Szene erst entstanden und dann kontinuierlich gewachsen – in (zunächst) außerinstitutioneller Opposition zu den «Einrichtungen», eng verbunden mit der Entwicklung der Grünen und ihrer Themen übrigens: Freie Kultur kümmerte sich um Kindererziehung und sexuelle Aufklärung, um Ökologie und gesunde Ernährung, um Inklusion und Integration schon, als es die Begriffe dafür kaum gab. Freie Theater fanden (meistens) Worte und (nicht immer) Bilder für das, was irgendwie neu, kompliziert oder noch «heikel» war.

Wofür Lehrerinnen und Lehrern Worte oder Unterrichtsmaterial noch fehlten, machten irgendwo zwischen politischer Mission und Ehrenamt künstlerische Autodidakten «vermittelbar». Andererseits ging man auf die Straßen, probierte und provo zierte mit «unsichtbarem Theater». André Heller popularisierte und verknüpfte mit der künstlerischen Avantgarde der 1980er Jahre (und der Illustrierten Neue Revue) in der riesigen Park-Installation «Luna Luna» bildende Kunst und Clownstheater; Comedyfiguren wie Marlene Jaschke und der Biedermann «Herr Holm» erblickten dort das Licht der Welt. Aus diesen beiden Richtungen – institutionelle Opposition und kulturelle Avantgarde – entwickelten sich für die Theaterszene lukrative Märkte: Theater als pädagogische Funktion einerseits, Kleinkunst und Comedy andererseits.

Und so haben sie immer weitergemacht: Die Theaterspieler/innen spielen weiter, auch viele der Lehrer/innen unterrichten heute noch, die entstandenen Unterhaltungstheater sind erfolgreiche Touristenmagneten, ihre Protagonisten Fernseh-Mainstream. Sie haben (bis auf die Lehrer/innen) lange dafür kämpfen müssen: um Anerkennung in der Kulturwelt und ihrer erst entstandenen Berufe, um Gagen überhaupt, dann um Fördergeld und später auch um bauliche Institutionalisierung, zwischendurch immer wieder gegen wirtschaftliche Krisen und Unsicherheiten.

So wurden Lebenswerke daraus. Die gibt man nicht auf.

Dabei könnte das in – jetzt erst? – zeitgemäße eigene Strukturen führen: Genossenschaftsmodelle, Grundeinkommens-Versuche, Sharing nicht nur von Besitz, sondern auch von Ressourcen im Sinne einer Almende: In der Peripherie der «Freien» könnte erprobt werden, was in den Diskursen der regionalen, ökonomischen und intellektuellen Zirkel und Zentren längst wieder gedacht und behauptet wird. Welches Label, welche Formation der Freien Szene kommt eigentlich heute noch aus dem ländlichen Raum – arbeitet dort, kommt dort in Ruhe, mit Muße und Mut zu neuen Ideen? Auch da kam die «Freie Szene» mal her.

«Back to the roots», von den Ahnen lernen: Man müsste dazu die schnelle Aufmerksamkeit der Großstädte aufgeben, den dort so nahen, scheinbar greifbaren Erfolg. Aussteigen, raus ins Offene.

Stattdessen haben sich in der deutschen Theaterlandschaft Parallelwelten in Strukturen verfestigt, die Künstler und Künstlerinnen mit Missionen verdrängen oder erschöpfen. Der Nachwuchs betreibt Nachahmung von Funktionen, Nachbildung von Ästhetik. Die Stadt- und Staatstheater mitsamt ihrer Ausbildungsinstitute, Medienpartner und ihrem Publikumsabonnement verharren neben den «Freien», die auch lange schon nicht mehr so frei sind: Henning Fülle beschrieb beim «Impulse»-Festival 2012 ein «Parallelsystem der freien Theaterproduktion, das neben Künstlern und Künstlergruppen auch die Produktionshäuser, die Landesverbände und den Bundesverband der Freien Theater umfasst; das von kommunalen, Landes- und Bundes-Förderstrukturen getragen wird, dem eigene Festivals gewidmet sind und in denen die künstlerische performative und Theateravantgarde funktionieren kann. Dieses Paralleluniversum ist international orientiert und hat inzwischen auch Anschluss an die internationalen Entwicklungen der zeitgenössischen Theaterkunst gefunden.»

Diese Gegenbewegung holte für den deutschsprachigen Raum nach, was das rein literarische Bildungstheater an ästhetischen Entwicklungen der vorhergehenden Jahrzehnte in England und Amerika, Ost- und Südeuropa verpasst hatte: Mitte der 1980er Jahre fieberten wir auf Kampnagel beim Sommerfestival oder in den ersten Festivals «Politik im Freien Theater» für ein anderes Theater: politisch wirksam und aufklärerisch, ästhetisch innovativ, international. Endlich oben!

Viele «Freie» haben dabei etwas für Kunst Konstitutives ver- oder gar nicht erst gelernt: das Neuanfangen. Dem ja in der Regel ein Ende vorausgehen muss – hat doch jede und jeder von uns Hermann Hesses Ehrentags-Evergreen zur Konfirmation, zum Ende der Kindheit, zum Schulschluss, zur ersten Trauerfeier noch im Ohr – oder als Postkarte hinterm Spiegel klemmen, seine «Stufen»:
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Bloß wie kommt man auf die Höhe so eines erhebenden Endes? Das hatten und haben die etablierten Häuser den «Freien» voraus: das Aufhörenkönnen. Das fällt leichter, wenn man mal raus- und weitergehen kann, ohne dass alles zusammenbricht – und wieder rein, ohne «alles» erst erfinden zu müssen. Den Traditionen, Intendanten-Verträgen und dem Normalvertrag Solo sei Dank! (Sie machen eine urgrüne Idee weiterhin produktiv: die Rotation, den Stellungswechsel, den Rollentausch und Perspektivenwechsel als Voraussetzung für echte, innovative Kreativität.) Wenn von uns Freien doch mal jemand (s)ein «Haus» geschlossen hat, dann aus schierer Not, unter Zwang – oder um damit vergrößert, optimiert und instituionalisiert («professionalisiert»!) Wiederauferstehung zu feiern. Endlich wie die vielgeschmähten «Tanker»: manifest, immobil, unverrückbar da.

Aber immer noch ohne Vertrag, geschweige denn Tarifvertrag. Neben wenigen erfolgreichen Gruppen, Künstlern und «Marken» und einigen wenigen Produktionshäusern haben die Leistungen und Wirkungen der Freien Szenen aber die Aufstellung und Finanzierung der kulturellen Landschaft nur seltsam wenig geprägt. Während in der Bildungspolitik die Reformen kaum noch zählbar sind oder die Bauleitplanung längst von einer sozial bewegten integrierten Stadtentwicklung abgelöst wurde, während ökologisches Leben aus erneuerbaren Energien zum Mainstream wurde, sich weltpolitische Blöcke verschoben und globale Migration in Gang gesetzt haben, während also «Modernisierungsimpulse der Siebziger- und Achtzigerjahre zu ziemlich nachhaltigen Veränderungen der Mainstream- Strukturen geführt haben» (Fülle), während gerade dieser Tage eine SPD(!)-Umwelt(!)-Bundesministerin Public Viewing zur Erleichterung öffentlichen Grölens zum Sport (nicht zu einer Kultur!) erklärt – währenddessen ist die Theaterwelt resistent gegen grundlegende Entwicklung geblieben: Man konnte einfach nicht aufhören. Und ergo nicht neu anfangen.

Erobert und geblieben – wenn man die Ableger und Ausgründungen in Unterhaltungsgeschäft und Medienbetrieb außer Acht lässt, was ein Fehler sein könnte – ist für die Freien Theater ein Nischendasein mit spartanischer Förderung und prekären Arbeits- und Lebensbedingungen – verspartet und eingehegt als das per se «Neue» und/oder «Freie». Was in dieser Parallelwelt aber fehlt, ist eine Erfahrung des Aufhörens, die so wichtig wäre,
denn traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
(auch das sagte schon Hesse ;-) )

Doch für die Politik, zumal für die Grünen, ist «Freies» Theater per se gut (geblieben): Wenn es sich (irgendwie) mit kultureller Bildung verknüpft, wenn es (irgendwie; z.B. volkstheatrig oder comedymäßig) «neue Schichten erschließt», dann kann und darf das nicht falsch sein. Und am «Großen Theater» kann man nichts verändern: Wir haben uns, auch kulturpolitisch, an die Parallelwelten gewöhnt – und freuen uns irre, wenn sie sich mal begegnen, berühren, betasten oder zaghaft befruchten. Wer mehr will, erntet Protest: Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, meint zu Recht, dass heutige und künftige «Autoren des Theaters» die Regisseur/innen und Producer seien – und schafft den traditionellen «Stückemarkt» des Berliner Theatertreffens ab. Genauer: Er ersetzt die Suche nach immer neuen «Dramentexten» durch die Präsentation innovativer, integrierter Theaterforschungsarbeit. Er will etwas Altes aufgeben und etwas Neues machen. Es darf uns künstlerisch und kulturpolitisch nicht reichen, dass vor über dreißig Jahren Roberto Ciulli in Mühlheim mit seinem «Theater an der Ruhr» eine Strukturdebatte angestoßen hat: «Im Kern geht es um die Frage, wie Theaterarbeit künstlerisch und ökonomisch sinnvoll zu strukturieren ist, ob und wie die vorhandenen, tradierten Theaterstrukturen zu verändern sind. […] Die Frage nach der Struktur eines Systems ist aber die Frage nach seinem inneren Wesen, denn jede Struktur begrenzt und beschränkt die Möglichkeiten und die Fähigkeit mit dem System Welt zu kommunizieren.» Eine Idee muss die Struktur bestimmen, nicht immer wieder umgekehrt.

Ciulli hat die Idee des Reisens, die Migration und damit «einen weiterreichenden Dialog der Kulturen» zu seiner strukturbildenden Idee gemacht: «Die Bewegung, das Nichtverharren an einem Ort fordert Flexibilität und die Fähigkeit zur Improvisation und trägt wesentlich zur Finanzierung des Theaters bei», beschreibt er sein Theatermodell knapp auf seiner Homepage. Shermin Langhoffs Neuanfang am Berliner Maxim-Gorki-Theater macht jetzt wieder solche Hoffnung – und die, dass es nicht wieder für 34 Jahre die einzige Individualisierung einer relevanten «großen» Einrichtung bleibt, erwachsen aus einer kleineren, dem Ballhaus Naunynstraße.

Es mag der Fluch der Flüchtigkeit ihrer Kunst sein, der gerade Theatermenschen das Abgeben, Verwerfen und Neustarten ihrer Strukturen und Lieblingsideen so schwer macht, dass gerade im «Freien» Theater kaum ein Leitungswechsel ohne Not, Krise oder Kleinkrieg möglich scheint. Man ist halt wohl nie fertig? Ähnlich ist es in der Soziokultur. Aber es wäre so viel zu probieren und zu gewinnen, wenn mehr Verantwortliche wagen würden, irgendwomit aufzuhören und wirklich Neues zu beginnen: Ideen von einer Zukunft.

Warum gibt es immer noch kein/kaum Theater im digitalen Raum? Herbert Fritsch hat hier, mit Hamlet X und Elf Onkels, Pionierarbeiten geleistet. René Pollesch hat vor bald 20 Jahren im «Kleinen Fernsehspiel» des ZDF mit «Ich schneide schneller (soap)» TV-Theater gemacht – ob als ästhetische Form, Stoffentwicklung, zeitgemäße Hybridform oder Koproduktionsweise: Warum hat das niemand als Aufgabe auf (s)ein «Haus» übertragen? Manches Hörspiel ist heute theatralischer, dramatischer, lebendiger, authentischer als viele Bühnenspiele – warum gibt den Macherinnen niemand (s)ein gefördertes Theater? Der Dokumentarfilmer Andres Veiel hat als Autor und Regisseur seines Theaterstückes «Das Himbeerreich» am Deutschen Theater Berlin über deutsche Banker gesagt: «Ich habe die generelle Erfahrung gemacht, dass es immer schwieriger wird, an den Zentren der Macht dokumentarisch zu arbeiten. Durch zwischengeschaltete PR-Agenturen und durch ein gewachsenes Misstrauen gegenüber jeder Art von Transparenz ist das kaum noch möglich. Wenn es über die reine Selbstdarstellung von Erfolgen hinausgehen soll, wenn Entscheidungen hinterfragt oder wenn Machtzentren transparent gemacht werden sollen – dann merke ich, dass ich mit der Kamera dort nicht mehr reinkomme. […] ‹Das Himbeerreich› wäre dokumentarisch undenkbar gewesen. Niemand, der mit mir gesprochen hat, hätte das auch vor einer Kamera erzählt. Daher also ein Hoch auf das Theater – die Bühne ist genau der richtige Ort für diesen wichtigen Stoff.» Allein aus diesem Hinweis ließe sich mindestens ein weiteres Theater-Produktions-Team und -Haus grundsätzlich neu erfinden!

Die Herausforderungen in der Beziehung zwischen Literatur und Bühne liegen ja tatsächlich nicht darin, immer neue, nach jahrhundertealten Maßstäben «bühnentaugliche» Dialoge zu erfinden – sondern Theater als Format-Angebot für Autoren, als Portal für Wichtiges und Intensives zur Verfügung zu stellen, nutzbar zu machen. Für die, die etwas zu berichten, darzustellen, auszudrücken haben: Wissenschaftler/innen, Journalist/innen, Philosoph/innen, Biograf/innen, Aktivist/innen, Spezialist/innen – und Künstler/innen. Wie und wo, wenn nicht wenigstens im und mit Theater, sollen die unendlich vielen regionalen, sozialen, sprachlichen, fachlichen und globalgesellschaftlich ebenso risiko- wie innovationsträchtigen Parallelwelten miteinander verknüpft, verbunden, gedanklich und bildlich erlebt, sozial und psychologisch gelebt, ihre Soziolekte, Ethnolekte, Dialekte, Programmier- und Fachsprachen verständlich und durchlässig gemacht werden – im szenischen Verstehen, im Bilder-Finden, in direkter und immer interaktiver Live-Kommunikation?

Szenisches Verstehen, empathisches Erleben, eine Differenzierung von Glauben und Wissen, von Meinen, Kommentieren und Klicken sind unter die Räder einer rein sprachlichen, manchmal noch gedruckten, zunehmend digitalisierten Informations- und Wissensvermittlung gekommen. Diese Digitalisierung nicht nur als unhandliches Reklametool für Altes Theater zu verstehen, sondern als eigene Form eines Neuen Theaters, wäre ein weiterer lohnender Anfang. Das große neue digitale Gedächtnis hält genug vom Alten fest.

Es könnte jetzt mal wieder jemand aufhören, sein Lebenswerk und seinen Erbhof zu retten, #Regietheater und #Werktreue zu debattieren – und riskieren, (sich) Raum und Zeit und Hirn und Geld für Neues zu geben und zu nehmen.

Carsten Werner, April 2014

 

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Nachtrag, Herbst 2014:

oder so?

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Stadtteilbesuch der Grünen bei den Privattheatern in der Bremer City

In Ideenwirtschaft, Kunst, Stadt on 19. April 2012 at 19:41

Mit der „Schaulust“ am Güterbahnhof, dem Figurentheater „Mensch, Puppe“ in der Schildstraße, dem „Fritz“ am Herdentorsteinweg und dem „Bremer Kriminaltheater“ in der Friesenstraße sind in der jüngeren Vergangenheit gleich vier neue Theater direkt in der Bremer City gegründet worden. Ralph Saxe, wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen-Bürgerschaftsfraktion, und der kultur- und stadtentwicklungspolitische Sprecher Carsten Werner haben die Privattheater in der Bremer City – neben den neuen auch das Theaterschiff Bremen und das Musicaltheater – im Rahmen eines Stadtteilbesuchs besichtigt und mit deren Leitungen über ihre Situation gesprochen.

Wichtige Impulse fürs Stadtmarketing und die freie Theaterszene

„Hier ist, von Politik und Verwaltung fast unbemerkt, eine kleine eigene Branche entstanden, die Bremen als Kulturstadt und Standort der Kreativwirtschaft gut steht und gut tut“, fasst Ralph Saxe die Eindrücke zusammen: „Je mehr Angebote Bremen bieten kann, desto attraktiver wird die Stadt für Besucher von nah und fern.“ „Besonders beeindruckt hat mich, dass die Theater sich gegenseitig und auch die öffentlich geförderten Theater in direkter Nachbarschaft nicht als Konkurrenz, sondern als Belebung im kreativen Wettbewerb und als Bereicherung des Theaterstandortes insgesamt sehen“, freut sich Carsten Werner. Die Betreiberinnen und Betreiber der „Schaulust“ sehen sich gar nicht zuvorderst als Veranstalter, sondern bieten privat-gemeinnützig wichtiges KnowHow, wichtige räumliche und technische Infrastruktur für Solisten, StraßenkünstlerInnen und andere Gruppen der freien und der kommerziell arbeitenden Performance- und Theaterszene. Überhaupt werden die langjährigen Erfahrungen des Musicaltheater Bremen und des Theaterschiffes werden dabei durch die Neugründungen um neue Facetten, Ideen und Geschäftsmodelle ergänzt. „Da die Betreiberinnen und Betreiber dabei neben ihrer künstlerischen Mission auch persönlich einigen wirtschaftlichen Mut aufbringen, unterstützen wir sie gerne bei ihren Bestrebungen für eine gemeinsame Kommunikation und öffentliche Wahrnehmung ihrer Angebote“, ergänzt Ralph Saxe. Die rot-grüne Koalition hat sich festgelegt, Privattheater nicht mit öffentlichen Mitteln zu bezuschussen. „Selbstverständlich freuen wir uns aber sehr, dass die Theater zum Image Bremens und zur Aufenthaltsqualität und kulturellen Vielfalt in Bremen unterhaltsame Beiträge leisten“, findet Carsten Werner.

Ideen für gemeinsamen Auftritt

Die beiden Abgeordneten der Grünen unterstützen daher die in einem ihre Besuche abschließenden Rundgespräch entwickelten Ideen für gemeinsame Marketingaktionen. Knut Schakinnis, Betreiber des Theaterschiffes und als neuer privater Betreiber des Packhaustheaters im Gespräch, schlug eine gemeinsame Bremer Theater-App vor, die Spielpläne, Zusatzinformationen, Videos oder Songs und vor allem auch Ticketbuchungen für alle Bremer Theater per Mobiltelefon zugänglich macht. Christopher Kotoucek und Tim Kulke, die Betreiber des „Fritz“ am Herdentorsteinweg, regten ein gemeinsames Festival an. Carsten Werner regte an, diese Idee möglicherweise sogar auf alle Theater auszudehnen und analog zu dem erfolgreichen Angebot der Museen eine jährliche „Lange Nacht der Theater“ zu initiieren: „In der Bremer Theaterszene ist viel Aufbruch, dazu wird auch die Neuaufstellung des Bremer Theaters beitragen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass Bremen als Theaterstadt auch überregional wieder mehr und besser ins Gespräch kommt. Das sollten wir rechtzeitig auch im Stadtmarketing deutlich machen.“

Neben den eigentlichen Veranstaltungen ist dies auch eine Aufgabe für die Printwerbung der Bremer Wirtschaftsförderung, waren sich die privaten Theatermacher einig. Sie forderten eine angemessene Einbeziehung in die Kultur-Wegweiser-Systeme der Stadt – in Tourismuspublikationen, im Internet und ebenso auf entsprechenden Beschilderungen, betonte Eggert Peters vom Theaterschiff. Carsten Werner unterstützt diese Forderung: „Alle Veranstalter in Bremen gemeinsam machen das Angebot und einen besonderen Reiz der Stadt aus; die Breite des Angebots ist unser Pfund und das Publikum aus Bremen und dem Umland, vor allem aber Bremen-Touristen interessiert ja höchstens am Rand, ob und wie viel Förderung das Haus erhält, in dem sie tolle Inszenierungen, Schauspiel und Musik erleben.“ Deshalb wollen sich Saxe und Werner sowohl in der Kultur- als auch in der Wirtschaftsdeputation dafür einsetzen, dass alle Kulturanbieter gemeinsam und gleichberechtigt beworben werden. „So würden wir an die kleinen Unternehmen ein Stück ihrer Leistungen für das Image Bremens zurückgeben und die Aufmerksamkeit potenzieren“, ergänzt Ralph Saxe.

Geplant sind derzeit ein Kulturkalender, ein Theaterführer, ein zentraler Ticketservice und eine verbesserte Kulturwerbung im Rahmen des geplanten Relaunches von bremen.de. „Ich hoffe, dass wir an der Entwicklung dieser Maßnahmen die Bremer Kreativwirtschaft mit ihren lokalen Kompetenzen aktiv beteiligen können – das wäre ein weiteres Zeichen des Zusammenhalts und ein toller Synergieeffekt“, findet Carsten Werner.

Die beteiligten Theatermacher haben sich nach dem Besuch der Grünen gleich zu weiteren Gesprächen und Aktionen verabredet. Auch die beiden Abgeordneten wollen sich regelmäßig mit ihnen treffen und austauschen – auch in einem erweiterten Kreis, um weitere Kulturakteure und Politik miteinander ins Gespräch zu bringen, füreinander zu sensibilisieren und Formen der Zusammenarbeit zu etablieren.

 

Frey? Bullshit!

In Kunst, Politik on 15. Mai 2006 at 22:35

Substanzlose Stichwortsammlung

Senator Kastendiek lobt seinen „Blick für Management und Sponsoring“, die Staatsrätin die feinen Manieren. Auf der künstlerischen Seite läuft es noch nicht so rund: Er habe sich bei der Suche nach einer Schauspieldirektorin nur „Körbe geholt“, gesteht Hans-Joachim Frey freimütig. Fürs Tanztheater sucht er was „in der Mitte“ zwischen Choreografischem Theater und „Nussknacker“. Seit einem Jahr als Pierwoß-Nachfolger im Gespräch, hat Frey sich bis heute nicht mit beeindruckenden Namen oder Themen verbinden können. Agiert so ein PR-Profi?

Jetzt hat er ein „neues Theatermodell“ entwickelt. Doch schon einmal sollte das Theater per Star-gestütztem Semi-Stagione-Koproduktions-Betrieb saniert werden: Hansgünther Heyme startete vor 15 Jahren als Bremer Intendant mit Gudrun Landgrebe als „Tochter der Lüfte“, halbierte ratzfatz die Auslastung und wurde als „Herr der Windmaschinen“ verspottet und dozierte, „das Teure am Theater ist das Spielen“. Nach zwei Jahren war das Geschichte.

Im März vor Spielzeitbeginn den Spielplan zu veröffentlichen – das ist Usus aller Theater seit anno dunnemals. Frey will damit zur Internationalen Tourismus-Börse, doch die Bus- und Reiseunternehmer interessieren sich nur für die übernächste Spielzeit. Ein „Education-Schwerpunkt“ klingt super für eine Stadt, in der Schüler, Lehrer und Politiker nicht einmal „Bildung“ richtig schreiben oder gar mit Kultur verbinden können.

„Die Selbstverständlichkeit, mit der bis vor einigen Jahren Kultur und Theater rezipiert worden sind, nimmt ab“, behauptet Frey. Volkswirtschaftler und Arbeitsmarktexperten sind sich einig, dass es genau anders herum ist; die Bundesregierung spricht vom „Kulturbetrieb als Wachstumsbranche“.

Frey will es – abgekoppelt von Finanzdebatten, Inhalten, Personalien – jedem Recht machen. So sampelt er „das Beste der 80er und 90er“ aus simplen Kulturmanagement-Workshops. Mit einer so substanzlosen Stichwortsammlung wäre beim Bremer Kultursenator nicht mal eine Projektförderung zu erhaschen. Im Suhrkamp-Verlag ist zu diesem Phänomen gerade ein lesenswertes Büchlein des Philosophen Harry G. Frankfurt erschienen: Es hat 72 kleine Seiten, kostet 8 Euro und heißt „Bullshit“.

Carsten Werner (freier Produzent, Kulturmanager und Regisseur)

15.5.2006 taz Nord Nr. 7971 Bremen Aktuell 78 Zeilen, S. 24

Weltwut & Körperflüssigkeit

In Kunst, Werner on 18. Dezember 2001 at 23:55

von cwerg @ 2001-12-18 – 23:55:20

Ben Becker mit Klaus Kinski on Tour

Schon Klaus Kinskis jugendlicher lyrischer Auswurf voll Weltschmerz, Weltwut und wahrer Körperflüssigkeitenflut kündet von einem intensiven, scheinbar egomanen Maniac: „Die Menschen sind bis tief ins Herz verhurt! / was wollten sie von mir! ich hatte nichts getan!! / ich hatte nur mein Leben durchgerissen, / weil sie mir Eiter in die Seele pissen!! / ich krümmte mich unter der Nachgeburt, / die mir im Wirbel flattert wie ein irrer Hahn“ – heißt es im Gedicht „Irrenhaus“.

Der Jungschauspieler Kinski, mit 26 Jahren noch still, prüde, sanftmütig, „reißendes Lamm unter Wölfen“, kümmerte sich 1952 rührend um eine todkranke, sechzehnjährige Geliebte. In diesen wenigen Wochen soll er vehemente und metaphernreiche Wortkaskaden rauschhaft niedergeschrieben haben, die erst jetzt unter dem Titel „Fieber – Tagebuch eines Aussätzigen“ erschienen: Seit 1953 waren Geliebte und Gedichtetes verschwunden, nie erwähnt.

Zum Gedicht-Bildband gibt es ein Hörbuch: Der Schauspieler Ben Becker und Alexander Hacke, Kopf der „Einstürzenden Neubauten“, haben sich Kinskis „Weltirrsinn“ und weiterer Texte angenommen. Hacke hat aus Alltagsgeräusch und Allerweltsrauschen, aufgenommen im und ums Krankenkaus, sinnige Klangteppiche gesponnen. Becker horcht, spürt und schmeckt den genialischen Ergüssen Kinskis ironiefrei nach. Die Performance zum Hörbuch gab es jetzt live im Theater am Goetheplatz: die Musiker Ulrik Spies (Percussion) und Jacki Engelken (Elektronisches) erweitern oder verstärken Hackes Klangkunst mit einigen Live-Zutaten, Ben Becker gibt vor jugendlich gefülltem Haus den Kinski.

Oft unsensibel laut und basslastig verstärkt, wühlt er sich durch Wortmassen und Bildungetüme – mit argem Druck: So beeindruckend die errungenen Höhepunkte sind, wenn er schreiend und zugleich staunend zu Kinski-Becker verschmilzt, so anstrengend ist live dieser Weg entlang der Grenze zur Parodie. Das wird dann auch mal unfreiwillig komisch geknödelt: „Ich bin ein Mutterkuchen!“ – Naja. Bisscken dicke!

Das ist schade, weil Ben Becker – nicht nur im Hörbuch – auch ganz anders kann: Wenn er nicht wie Kinski klingen muss, sondern bei sich und seiner Musikalität bleibt, gelingen wunderschöne Hörkunststücke:

Ganz klar feiert er dann den „Jazz!! / Unsterblichkeit der Nerven!!“ – oder musiziert den „Orient: Komm! amoktoller Mohn! / Komm! Lustbesautes Bett! / … / Ich seh auf Deinen scharfgeschliffnen Brüsten / den blutgeflammten Schaum des Himmels winken! / Komm! laß und schnell zusammenrasen / Blut in Blut!!“. In manchen Momenten reichen ein Paar Gummihandschuhe an Musikerhänden, ein paar stille Tanzschritte oder fahles Neonlicht, um Kinskis wilden Worten Bilder zu geben, einfach und gut. Dann ist Ben Becker vielleicht bei Kinski, bei dessen großem Porträt auf der Bühne er sich immer wieder rückversichert.

Abschied: „Ich richte mich auf – ganz steil – wie es Baeume tun, wenn sie wissen, daß es Zeit zum Sterben ist – – – ich muß weg von hier!!“ – und Becker/Kinski geht.

19.12.2001 taz Bremen Nr. 6630 Kultur 45 Zeilen, S. 23

Provokation? Quatsch!

In Kunst, Politik, Werner on 1. November 2001 at 09:00

Bremen schasste Theaterdirektor Hübner trotzdem. Unter seiner Hand wurde das Theater zum Talentschuppen und Bremen zu einer wilden Stadt

Die Bremer Theater-Ära Hübner endete 1973. Carsten Werner, freier Regisseur und Leiter des Jungen Theaters, war damals grade mal sechs. Für die taz sprach er mit der Theaterlegende, die für junge Theatermacher nach wie vor Vorbild ist und der er als Entdecker noch immer zur Seite steht.

taz:Herr Hübner, Sie werden gefeiert als der große Anreger, Entdecker, Zusammenbringer und Animator des deutschen Theaters, als Legende und Vorbild vieler jüngerer Intendanten. Stört Sie das, dass der Regisseur und Schauspieler Kurt Hübner in den Lobreden so wenig vorkommt?

Kurt Hübner: Nein, gar nicht. Denn das hängt ja auch mit mir zusammen, daß ich immer Leute suchte und gefunden habe, von denen ich meinte, sie sind besser als ich oder sie könnten mich in irgendeiner Weise weit übertreffen. Und das hat den Ruhm des Theaters ausgemacht, dass ich diese Regisseure fand und hier her holte, die innovativ waren und unverwechselbar: Zadek, Stein und Grüber, Kresnik und Fassbinder, Wilfried Minks und viele andere – das waren alles unverwechselbare Leute.

Man sagt Ihnen Neidlosigkeit nach …

Neidlos bin ich. Dass ich das zustande gekriegt habe, dass hier was blühte, mit diesen Menschen, und dass man das nicht vergessen hat, das ist meine größte Genugtuung.

Sie feiern Ihren 85. Geburtstag in Bremen und tragen sich ins Goldene Buch der Stadt ein. Da haben Sie den heutigen Tag Ihren „Versöhnungstag mit Bremen“ genannt.

Ich möchte es so gerne. Und ich möchte alles wegschaufeln, was schwere Wunden gerissen hat. Es sind neue Leute da, eine andere Generation. Es sind ja nur wenige von den Politikern übrig, die für mich Monster waren, an Unwissenheit und auch an Unverschämtheit. Den Bremern von heute will ich doch nicht das mehr übel nehmen, was die Leute damals an uns Brutales und Mörderisches versucht haben. Das ist vorbei. Es muß Versöhnungstage geben, überhaupt, grundsätzlich in der Menschheit.

Wissen Sie, was man in Bremen gegen Sie oder Ihr Theater hatte?

Es waren aufregende, wilde, schwierige Zeiten. Und das Wilde wurde von den Politikern reflektiert und war eine Last. Es sollte doch mit der Kunst, mit dem Theater angenehm bequem bleiben, nicht ständig neue Auseinandersetzungen! Ich war denen vielleicht unheimlich.

Wollten Sie provozieren?

Quatsch. Wir wollten lebendiges Theater machen, das die Leute wach hält und wach macht, aber niemanden aus dem Theater vertreiben! Ich war Theaterdirektor und wollte, dass möglichst viele Leute kommen – und es sind viele gekommen, auch junge Menschen, die vorher nicht ins Theater gegangen sind.

Hans Koschnick sagt, Ihr Theater habe Politik und Gesellschaft neue Anstöße gegeben.

Ja, da war er eine Ausnahme. Nach außen hin hatte er immer seine große Zuneigung gezeigt zu dem, was wir machten. Er war ein wunderbarer Fan. Er war aber nach Innen, in die Politik rein, ein bißchen gehandicapt – der Bürgermeister hat sich nicht in andere Ressorts einzumischen. Da hat er dann so eine Bremer Vornehmheit walten lassen, über die ich immer ein bißchen verblüfft war.

Was machen Sie als nächstes?

Ich habe jetzt in Berlin im Hörspiel den Kant verkörpert. Da war ich gegen mich selber außerordentlich skeptisch. So eine große, skurrile Figur, die muss ich mir ja erstmal erkämpfen. Ich bin beim Impulse-Festival der Freien Theater in der Preisjury und ich habe den Auftrag der Akademie der Künste und der Eysoldt-Stiftung in Bensheim, für die jährliche Verleihung eines Preises den jungen Regisseur zu finden, der dafür in Frage kommt.

Wie entdecken und erkennen Sie einen jungen Künstler?

Das hat viel mit Spüren, Nervlichkeit und auch mit Psychologie zu tun. Dieses Geheimnis eines Menschen, das entdeckt nicht jeder. Ich bin oft gefragt worden: Wie hast Du die alle gefunden? Da müßte ich ein kleines Buch darüber schreiben. Die Intendanten sind überall in Deutschland auf der Suche nach den großen neuen Talenten. Und da sind Leute plötzlich „große Talente“, bevor sie auf Herz und Nieren daraufhin untersucht worden sind. Es gibt viel Brimborium – ich durchschaue das wahrscheinlich leichter als andere, die über eine stilistisch merkwürdige Geschichte entzückt sind. Aber sehr häufig verbirgt sich dahinter nichts weiter als ein bißchen heißer Wind und dann kommt – leere Luft.

Was raten Sie jungen Leuten, die Regisseurin oder Schauspieler werden wollen? Kann man das an einer Schule lernen?

Das weiß ich nicht. Ich habe zu Schulen ja eine ganz schlechte, mißtrauische Beziehung. Es sind ja die Fußkranken des Theaters, die an den Schulen meistens die Lehrer sind, zu viele im Theater Gescheiterte. Da sind immer einige wenige sehr gute Lehrer. An die jungen Regisseure und deren eigene Verfeinerung durch sich selber, an die glaube ich mehr, als an alle Lehrer. Die meisten Hochbegabten sind letzten Endes Autodidakten.

Gilt das auch für Schauspieler?

Ich sage denen: Ihr müßt sehen und schauen. Wie man daran arbeitet, wie man spricht oder stumm ist, Pausen setzt, wie das entsteht. Aber geht nur zu denen, von denen ihr überzeugt seid! Ich liebe es ja, Filme zu sehen. „Die Klavierspielerin“: Was der Haneke da zustande gekriegt hat, das ist wunderbar. Eine höchst neurotische Geschichte, wenn Sie die aber in dem Film sehen, denken Sie, es ist überzeugende Wirklichkeit. Man kann doch an den Maßstäben, die große Kunst setzt, sich selber messen. Dazu sind sehr viele von den jungen Leuten auf den Schulen zu bequem und zu faul. Diese leidenschaftliche Begierde, seine Maßstäbe zu finden an großen Kunstwerken des Theaters oder des Films, ist relativ selten.

1.11.2001 taz Bremen Nr. 6589 Kultur 170 Zeilen, S. 27

Kurt Hübner: Der Möglichmacher

In Kunst, Werner on 27. Oktober 2001 at 10:00

Der ehemalige, im „Kultursenatorium“ nicht gelittene Generalintendant des Bremer Theaters wird 85 Jahre

Am 30. Oktober wird Kurt Hübner 85 Jahre alt. Von 1962 bis 1973 war er Generalintendant am Bremer Theater. Er wird seinen Geburtstag mit vielen seiner Weggefährten im Bremer Theater am Goetheplatz feiern. In gewissem Sinn beehrt er so noch einmal die Stadt, aus der im Jahr 1973 ohne offiziellen Abschied und Dank gejagt wurde: beleidigt, beschimpft und entlassen vom „Kultursenatorium“, wie er die Institution einmal bitter-ironisch nannte.

Mit der Entlassung Hübners endete Bremens, vielleicht sogar Deutschlands bedeutendste Theater-Ära. Für den damaligen Kultursenator Moritz Thape allerdings ein „völlig legaler Vorgang“, hatte Thape, der Hübner und dessen Arbeit nie sonderlich schätzte, doch nur den Vertrag des Intendanten nicht verlängert.

Hübners Verdienste indes sind so vielgestaltig wie seine Talente: Er holte die drei großen Antipoden des deutschen Theaters, Stein, Grüber und Zadek nach Bremen und konfrontierte sie mit Kresnik und Fassbinder, damals noch kreative Nachwuchskräfte. Im „offenen Vorsprechen“ entdeckte er in blutigen Anfängern schon große Schauspieler, etwa Bruno Ganz. Hübner brachte „Antitheater“ und „Living Theatre“, „Off“ und „Off Off“ ins deutsche Stadttheater und schaffte Verbindungen zu Musik, Bildender Kunst und Choreographischem Theater.

Gemeinsam mit Zadek produzierte er hierzulande das erste amerikanische Musical und unterlief, noch in Ulm, den westdeutschen Brecht-Boykott und damit alle Erwartungen und Konventionen der deutschen Bildungsbürger an „ihr“ Theater. Von nun an gehörten ein Offenlegen von Machtstrukturen sowie politisches Opponieren zum Alltag der Bühnen des Bremer Theaters.

„…von der Freiheit eines Theatermenschen“ heißt ein Film über Hübner von Marcus Behrens (heute um 14 Uhr auf N 3). Bremens ehemaliger Bürgermeister Koschnik begeistert sich darin über „Hübners Theater“, ein Theater, das der Gesellschaft einst eine Reihe neuer Anstöße gegeben hat. Zadek schwärmt von einer permanenten Theater-Party. Er kam sich vor wie „fünf Jahre lang auf einem Trip“.

Ästhetisch deutlich vom Bühnenbildner Wilfried Minks geprägt, entstand so unter der Ägide Hübners der berühmte Bremer Stil, in dem sich die Hansestadt bis heute allzugerne sonnt. Geprägt wurde der Begriff von der Zeitschrift „Theater Heute“, die sich am Bremer Geschehen derart interessiert zeigte, dass sie sich dafür flux den Spitznamen „Bremen Heute“ einhandelte. Hübner allerdings spricht lieber von der „Bremer Schule“, „weil da jeder in eine andere Richtung rannte und Zadek sogar in 17 verschiedene“.

Bis heute ist Hübner neugierig, im positiven Sinne „naiv“, immer unterwegs auf der Suche nach Neuem, Abseitigem und Aufregendem. Er unterrichtet Schauspielschüler, regt an, sammelt und sichtet die Szene. Beharrlich hält er Ausschau nach förderungswürdigen Kandidaten und jungen Talenten. Allerdings, die Messlatte liegt hoch: „Wenn ich nicht das Gefühl habe, der ist viel interessanter als ich selber, dann interessiert er mich nicht. Und das war vielleicht das ganze Geheimnis, immer“. Wahrscheinlich.

Der ehemalige Intendant feiert seinen 85. Geburtstag in Bremen. Tags darauf trägt er sich ins Goldene Buch der Hansestadt ein. Sein Lebensmotto nannte er einmal: „Trotzdem!“ Herzlichen Glüchwunsch!

27.10.2001 taz Bremen Nr. 6585 Kultur 48 Zeilen, S. 27

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