Wo Arbeitslose arbeiten und Arbeiter Arbeitslosenhilfe brauchen, taugen alte Bilder nicht: Warum mit „gerechten Löhnen“ das Ende der sozialen Fahnenstange längst nicht erreicht ist.
Dass ausgerechnet Hollywood einen Hinweis für die Organisation hiesiger Beschäftigungsverhältnisse liefern würde, war nun wirklich nicht zu erwarten. Mit der streitbaren Glamourunter- wanderung der Golden-Globe-Verleihung zeigten die, die man heute oft „kreative Klasse“ nennt, aber doch, was hierzulande fehlt: Zusammenhalt. Wenn alle draußen mit Streikschildern herumlaufen, findet drinnen eben keine Show statt. Es geht um die Teilhabe an mehrfacher Verwertung der mitersonnenen Produkte. Kurz: Um Lohn. Und das mitten in der Kulturindustrie. Als Hinweis dient der Aufmupf aus der Gag- und Drehbuchabteilung allemal.
Das Drehbuch hiesiger Debatten folgt vor allem klassischer Wahlkampfdramaturgie: Schlagkräftige Gewaltdebatte auf der einen, „Gerechtigkeit“ beim Lohn auf der anderen Seit der politischen Lager – Mindestlohn, 7 Euro und 50 Cent pro Arbeitsstunde stehen zu Gebote. Sogar das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft meint, „ein allgemeiner gesetzlicher Mindest- lohn wäre dem Flickenteppich, den wir jetzt bekommen, eindeutig vorzuziehen.“ Als angemessene „Norm, die aus moralischen Gründen einfach nicht unterschritten wird“ hat IW-Tarifexperte Hagen Lesch allerdings lediglich 5 Euro ausgerechnet. Ob das „Steuerungsinstrument“ Mindestlohn Arbeitsplätze schafft, erhält oder reduziert, darüber streiten Politiker und Experten – selten überraschend.
Die Debatte, pointiert durchexerziert an Briefdienstleistungen, ist dabei keineswegs vom Himmel gefallen. Sich mit Siebenmeilenstiefeln vom Glauben an Vollbeschäftigung entfernend, rennt die Arbeitsgesellschaft von der Arbeit fort (und umgekehrt). Oder zu- mindest von der Vorstellung, Arbeit und ihre Vergütung sei automatisch Lebens- unterhaltssicherung. Einen Ausgangspunkt der Überlegungen zum Mindest- lohn beschreibt Ingo Schierenbeck, Leiter der Rechtsabteilung der Bremer Arbeitnehmerkammer, ganz simpel: „Es hat vermehrt Leute gegeben, die zu uns kamen und fragten: Wie komme ich an mehr Gehalt, denn mit meiner Vergütung komme ich nicht mehr klar. Das sind Fragen, die es früher so fast nie gegeben hat. Klassischer Fall: Der Wachmann, der mit 4,50 Euro in der Stunde nur deswegen auf ein akzeptables Gehalt kommt, weil er 12 Stunden am Tag arbeitet.“
Dazu kommen alle, die – gewissermaßen im Nachklapp zum sich in der Dienstleistungsgesellschaft verändernden Bild des Arbeiters – zur Gruppe der arbeitenden Arbeitslosen gehören. Nur noch aus nostalgischen Gründen lässt sich die Ikonographie der Arbeits- losigkeit etwa Bertolt Brechts bemühen. Dass Menschen ohne Arbeit arbeitslos sein können obwohl sie arbeiten, damit hatte wohl nicht einmal der politische Liederschreiber gerechnet. Nicht wenige, die heute arbeitslos sind, könne man im Service an der Schlachte treffen, bringt es der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel auf den Punkt. Ingo Schierenbeck sagt: „Wenn, das ist der klassische Fall eines Sozialstaates, festgestellt wird, dass unterschiedlich starke Akteure aufeinander treffen und der gesellschaftlich stärkere den gesellschaftlich schwächeren unterdrücken kann, dann ist der Staat aufgerufen, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, damit diese Unterdrückung nicht stattfindet – oder zumindest nicht ausufert.“ Der Sozialstaat wird aktiv – und der Springerkonzern macht seinen Briefdienstladen, kapitulierend vor der Gefahr, allen Mitarbeitern den „gerechten“ Lohn zahlen zu müssen, gleich ganz dicht. So werden Mindestlohn, Grundsicherung oder Grundeinkommen zur staatspolitischen Aufgabe und Herausforderung.
Denn der Branchen-Flickenteppich der tarifgesteuerten Lebensunterhaltssicherung hat viele blinde Flecken und Löcher: „Die Tarifbindung von Arbeitnehmern geht dramatisch zurück. Sie liegt, wenn überhaupt, noch bei 50 Prozent“, erklärt Schierenbeck. „Wenn keine Tarifverträge das Gehalt festlegen, ist es frei verhandelbar. Und eine Grenze nach unten gibt es nicht.“ Darüber hinaus gibt es große Erwerbszweige, die tarifliche Bindungen nur aus der Tagesschau kennen. So wäre ein (tariflicher) Mindestlohn ein Minderheitenprojekt, Klientelpolitik?
Kultur ist die Branche mit den meisten prekären Jobs. Keine geringe Zahl der freibe- ruflich Tätigen verdient ihr Geld in Kulturarbeit und -wirtschaft. Doch in den
akuten Politdebatten um die Einführung eines Mindestlohns geraten jene nicht so recht ins Blickfeld, die sonst gern angeschaut werden: auf Bühne oder Leinwand, in CD-Booklet oder Buchumschlag. Von all denen, die – im Studio oder vor dem heimischen Bildschirm – backstage arbeiten, ganz zu schweigen.
„Wir sind die Branche, die am meisten wächst – aber mit prekären Beschäftigungsverhältnissen“, meint Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats. Dieser hat unlängst mit der Gewerkschaft Ver.di eine Studie vorgelegt, derzufolge gerade mal ein Viertel der bildenden Künstler von ihrem Beruf leben können. Beim Rest füllt nicht die sprichwörtliche Berufung das Konto – sondern Jobs und Hartz IV müssen hel- fen. Die Künstlersozialkasse errechnete für die aktiv Versicherten 2006 ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 11.094 Euro. Laut einem Gutachten der Friederich-Ebert-Stiftung muss ein Viertel der Vollzeitangestellten in Kultur, Sport und Unterhaltung mit weniger als 1700 Euro brutto im Monat auskommen. In der Gastronomie liegen 70 Prozent der Arbeitenden unter dem Durch- schnittseinkommen. So ist der Boom von Kulturwirtschaft, Unterhaltung und Tourismus auch ein Boom des Lohndumpings – oder/und, positiv gewendet, eben Vorreiter eines grundlegenden Wandels des Verhältnisses von Arbeit zu Freizeit zu Staat: Macht ein Mindestlohn für diese Branchen und ihre Freiberufler Sinn – oder schließen nach den Billig- briefdiensthökern dann flugs die (staat- lich nicht stattlich finanzierten) Kultur- läden? Das würde klassische Arbeitslose schaffen – statt neuer Arbeitsformen. Eine Grundsicherung oder ein Grundeinkommen könnten diese Arbeits- und Lebensalternativen dagegen sichern.
Wer bündelt Anliegen, wo jeder die eigenen vertritt? Die so genannte kreative Klasse ist zu vielfältig, als dass sie ein einheitliches Selbst-Bewusstsein und dazu- gehörige Forderungen nach politik-kompatibler „Gerechtigkeit“ entwickeln könnte. Die Einkommenssituation in kulturelen Kleinbetrieben, von Künstlern, Handwerkern, Dienstleistern und Freiberuflern wird nicht über Tarifverträge geregelt, sondern richtet sich nach dem, was der Einzelne gegenüber seinem Auftraggeber durchsetzen kann. Der Konkurrenzdruck wirkt als Lohndrücker. Die Zahl der bei der Künstlersozialkasse gemeldeten freischaffenden Künstler hat sich in nicht einmal 20 Jahren verdreifacht. Wenig Platz für eine weiträumige Interessenvertretung.
Kulturrats-Geschäftsführer Zimmermann sagt mit Blick auf die angemessene Bezahlung von Geisteswissen- schaftlern: „Es gibt natürlich wenig Angebote im Bereich des Volontariats und es gibt eine riesige Nachfrage. Das drückt den Preis. Aber das ist genau dieselbe Situation wie im Bau oder bei der Briefzustellung. Irgendwann haben Sie eine Situation erreicht, wo die Menschen ganz objektiv davon nicht mehr leben können.“ Ließe sich die angemessene Entlohnung von Volontären noch tariflich auf ein lebbares Maß bringen, ist bei vielen Kulturanbietern und -produzenten schlicht beim schmalen Budget Endstation. In ihrer neuen Kulturheimatstadt, klagt die neue Intendantin der Hamburger Kampnagelfabrik, Amelie Deuflhard, „ist so wenig Geld für Kultur da, dass man das Gefühl haben kann, dass die frei produzierenden Künstler nicht mehr als einem Hobby nachgehen.“ Und den Stundenlohn lieber gar nicht
erst hochrechnen.
Gerade weil ein Mindestlohn im diversifizierten Kultur- und Kreativ- Segment nicht qua Branchentarifvertrag einzuführen ist, gehören die Erwerbsbedingungen vieler dort Arbeitender auf die Agenda. Es geht hier um einen jener Bereiche mit „weißen Flecken“ auf der Lohn-Landkarte, die das Arbeitsministerium mit einem neuen Mindestarbeitsbedingungengesetz schließen will. „Der Mindestlohn kann hier als wichtiges Signal wirken“, meint Ingo Schierenbeck von der Arbeitnehmerkammer: „Wenn es gelungen ist, erst mal zu sagen: Für eine Stunde Arbeit – egal welcher Art – muss es in Deutschland mindestens 7,50 Euro geben, und das ist schon wenig genug, dann ist das eine klare Aussage, die für andere Branchen auch gelten muss.“
Oder die Show muss doch mal ausfallen – weil das Fehlen angemessener Vergütung der dort zu erbringenden Leistungen einfach nicht vertreten kann.
< Tim Schomacker
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