carsten werners

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Die Kunst des Aufhörens

In Ideenwirtschaft, Kunst, wörtlich! on 10. Mai 2014 at 20:12

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Dieser Artikel ist ein Beitrag zu der Publikation „Brennen ohne Kohle“ der Böll-Stiftung, die hier bestellt oder als E-Book heruntergeladen werden kann. 

 

 

 

Wie schließen?

Mich nerven Leute, die aus Angst stehengeblieben sind,
obwohl sich die Welt um sie herum längst verändert hat.

(Peter Zadek)

Die anmaßende, überhebliche, unsinnliche und oberlehrerhaft arrogante Tonlage der «Kulturinfarkt»-Anstifter hat die Frage für Jahre frisch zum Tabu betoniert: «Wie schließen?» Ein kulturpolitisches No-Go also. Die Debatte wurde gar nicht erst politisch – sondern abgedrängt ins Feuilleton und entsprechend hysterisch, schrill und erratisch verhandelt; so gab es auf eine richtige Fragestellung nur vielzuviele vorlaute, vorschnelle Antworten, Geschrei; Tenor: Wir lassen alles so, wie es ist. Weil, so war es schon immer. Kulturfeinde! Freiheitsfeinde! Und: «Et hätt noch immer jot jejange!» (Wie man in Köln sagt.)

Kurz vorher noch hatten wir uns und der Kultur kühn in den rot-grünen Bremer Koalitionsvertrag geschrieben: «‹Altes› muss sich verändern und ‹Neues› muss in einer sich wandelnden Gesellschaft Räume und Ressourcen erobern können. Gerade auch zeitlich befristete Projekte können erhebliche Impulse für die Kultur- und Stadtentwicklung geben, ohne institutionalisiert werden zu müssen» – durchaus im Bewusstsein, dass solche Ermöglichung, Erneuerung nicht ohne Einschränkung geht. «Wie schließen?» wollten wir schon da lieber nicht fragen. Denn es können Mauern und Ideologien zusammenbrechen, Berufe vergehen und Wirtschaftszweige – in der Kulturförderung ist ein Schluss tabu.

Seit den 1970er Jahren bis heute boomt die Kultur in Deutschland – wo noch vor 40 Jahren pro Stadt 1–2 Theater, 1–2 Museen und 1–2 Bibliotheken die kulturelle Grundversorgung leisteten, sind ganze Industriezweige wie die Kreativwirtschaft mit Pop-, Medien- und Netzkultur hinzugewachsen, kulturelle Aufgaben und Beschäftigungsfelder wie die kulturelle Bildung und die integrierte Stadtentwicklung neu entstanden. Und vor allem ist eine Freie Szene erst entstanden und dann kontinuierlich gewachsen – in (zunächst) außerinstitutioneller Opposition zu den «Einrichtungen», eng verbunden mit der Entwicklung der Grünen und ihrer Themen übrigens: Freie Kultur kümmerte sich um Kindererziehung und sexuelle Aufklärung, um Ökologie und gesunde Ernährung, um Inklusion und Integration schon, als es die Begriffe dafür kaum gab. Freie Theater fanden (meistens) Worte und (nicht immer) Bilder für das, was irgendwie neu, kompliziert oder noch «heikel» war.

Wofür Lehrerinnen und Lehrern Worte oder Unterrichtsmaterial noch fehlten, machten irgendwo zwischen politischer Mission und Ehrenamt künstlerische Autodidakten «vermittelbar». Andererseits ging man auf die Straßen, probierte und provo zierte mit «unsichtbarem Theater». André Heller popularisierte und verknüpfte mit der künstlerischen Avantgarde der 1980er Jahre (und der Illustrierten Neue Revue) in der riesigen Park-Installation «Luna Luna» bildende Kunst und Clownstheater; Comedyfiguren wie Marlene Jaschke und der Biedermann «Herr Holm» erblickten dort das Licht der Welt. Aus diesen beiden Richtungen – institutionelle Opposition und kulturelle Avantgarde – entwickelten sich für die Theaterszene lukrative Märkte: Theater als pädagogische Funktion einerseits, Kleinkunst und Comedy andererseits.

Und so haben sie immer weitergemacht: Die Theaterspieler/innen spielen weiter, auch viele der Lehrer/innen unterrichten heute noch, die entstandenen Unterhaltungstheater sind erfolgreiche Touristenmagneten, ihre Protagonisten Fernseh-Mainstream. Sie haben (bis auf die Lehrer/innen) lange dafür kämpfen müssen: um Anerkennung in der Kulturwelt und ihrer erst entstandenen Berufe, um Gagen überhaupt, dann um Fördergeld und später auch um bauliche Institutionalisierung, zwischendurch immer wieder gegen wirtschaftliche Krisen und Unsicherheiten.

So wurden Lebenswerke daraus. Die gibt man nicht auf.

Dabei könnte das in – jetzt erst? – zeitgemäße eigene Strukturen führen: Genossenschaftsmodelle, Grundeinkommens-Versuche, Sharing nicht nur von Besitz, sondern auch von Ressourcen im Sinne einer Almende: In der Peripherie der «Freien» könnte erprobt werden, was in den Diskursen der regionalen, ökonomischen und intellektuellen Zirkel und Zentren längst wieder gedacht und behauptet wird. Welches Label, welche Formation der Freien Szene kommt eigentlich heute noch aus dem ländlichen Raum – arbeitet dort, kommt dort in Ruhe, mit Muße und Mut zu neuen Ideen? Auch da kam die «Freie Szene» mal her.

«Back to the roots», von den Ahnen lernen: Man müsste dazu die schnelle Aufmerksamkeit der Großstädte aufgeben, den dort so nahen, scheinbar greifbaren Erfolg. Aussteigen, raus ins Offene.

Stattdessen haben sich in der deutschen Theaterlandschaft Parallelwelten in Strukturen verfestigt, die Künstler und Künstlerinnen mit Missionen verdrängen oder erschöpfen. Der Nachwuchs betreibt Nachahmung von Funktionen, Nachbildung von Ästhetik. Die Stadt- und Staatstheater mitsamt ihrer Ausbildungsinstitute, Medienpartner und ihrem Publikumsabonnement verharren neben den «Freien», die auch lange schon nicht mehr so frei sind: Henning Fülle beschrieb beim «Impulse»-Festival 2012 ein «Parallelsystem der freien Theaterproduktion, das neben Künstlern und Künstlergruppen auch die Produktionshäuser, die Landesverbände und den Bundesverband der Freien Theater umfasst; das von kommunalen, Landes- und Bundes-Förderstrukturen getragen wird, dem eigene Festivals gewidmet sind und in denen die künstlerische performative und Theateravantgarde funktionieren kann. Dieses Paralleluniversum ist international orientiert und hat inzwischen auch Anschluss an die internationalen Entwicklungen der zeitgenössischen Theaterkunst gefunden.»

Diese Gegenbewegung holte für den deutschsprachigen Raum nach, was das rein literarische Bildungstheater an ästhetischen Entwicklungen der vorhergehenden Jahrzehnte in England und Amerika, Ost- und Südeuropa verpasst hatte: Mitte der 1980er Jahre fieberten wir auf Kampnagel beim Sommerfestival oder in den ersten Festivals «Politik im Freien Theater» für ein anderes Theater: politisch wirksam und aufklärerisch, ästhetisch innovativ, international. Endlich oben!

Viele «Freie» haben dabei etwas für Kunst Konstitutives ver- oder gar nicht erst gelernt: das Neuanfangen. Dem ja in der Regel ein Ende vorausgehen muss – hat doch jede und jeder von uns Hermann Hesses Ehrentags-Evergreen zur Konfirmation, zum Ende der Kindheit, zum Schulschluss, zur ersten Trauerfeier noch im Ohr – oder als Postkarte hinterm Spiegel klemmen, seine «Stufen»:
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Bloß wie kommt man auf die Höhe so eines erhebenden Endes? Das hatten und haben die etablierten Häuser den «Freien» voraus: das Aufhörenkönnen. Das fällt leichter, wenn man mal raus- und weitergehen kann, ohne dass alles zusammenbricht – und wieder rein, ohne «alles» erst erfinden zu müssen. Den Traditionen, Intendanten-Verträgen und dem Normalvertrag Solo sei Dank! (Sie machen eine urgrüne Idee weiterhin produktiv: die Rotation, den Stellungswechsel, den Rollentausch und Perspektivenwechsel als Voraussetzung für echte, innovative Kreativität.) Wenn von uns Freien doch mal jemand (s)ein «Haus» geschlossen hat, dann aus schierer Not, unter Zwang – oder um damit vergrößert, optimiert und instituionalisiert («professionalisiert»!) Wiederauferstehung zu feiern. Endlich wie die vielgeschmähten «Tanker»: manifest, immobil, unverrückbar da.

Aber immer noch ohne Vertrag, geschweige denn Tarifvertrag. Neben wenigen erfolgreichen Gruppen, Künstlern und «Marken» und einigen wenigen Produktionshäusern haben die Leistungen und Wirkungen der Freien Szenen aber die Aufstellung und Finanzierung der kulturellen Landschaft nur seltsam wenig geprägt. Während in der Bildungspolitik die Reformen kaum noch zählbar sind oder die Bauleitplanung längst von einer sozial bewegten integrierten Stadtentwicklung abgelöst wurde, während ökologisches Leben aus erneuerbaren Energien zum Mainstream wurde, sich weltpolitische Blöcke verschoben und globale Migration in Gang gesetzt haben, während also «Modernisierungsimpulse der Siebziger- und Achtzigerjahre zu ziemlich nachhaltigen Veränderungen der Mainstream- Strukturen geführt haben» (Fülle), während gerade dieser Tage eine SPD(!)-Umwelt(!)-Bundesministerin Public Viewing zur Erleichterung öffentlichen Grölens zum Sport (nicht zu einer Kultur!) erklärt – währenddessen ist die Theaterwelt resistent gegen grundlegende Entwicklung geblieben: Man konnte einfach nicht aufhören. Und ergo nicht neu anfangen.

Erobert und geblieben – wenn man die Ableger und Ausgründungen in Unterhaltungsgeschäft und Medienbetrieb außer Acht lässt, was ein Fehler sein könnte – ist für die Freien Theater ein Nischendasein mit spartanischer Förderung und prekären Arbeits- und Lebensbedingungen – verspartet und eingehegt als das per se «Neue» und/oder «Freie». Was in dieser Parallelwelt aber fehlt, ist eine Erfahrung des Aufhörens, die so wichtig wäre,
denn traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
(auch das sagte schon Hesse ;-) )

Doch für die Politik, zumal für die Grünen, ist «Freies» Theater per se gut (geblieben): Wenn es sich (irgendwie) mit kultureller Bildung verknüpft, wenn es (irgendwie; z.B. volkstheatrig oder comedymäßig) «neue Schichten erschließt», dann kann und darf das nicht falsch sein. Und am «Großen Theater» kann man nichts verändern: Wir haben uns, auch kulturpolitisch, an die Parallelwelten gewöhnt – und freuen uns irre, wenn sie sich mal begegnen, berühren, betasten oder zaghaft befruchten. Wer mehr will, erntet Protest: Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, meint zu Recht, dass heutige und künftige «Autoren des Theaters» die Regisseur/innen und Producer seien – und schafft den traditionellen «Stückemarkt» des Berliner Theatertreffens ab. Genauer: Er ersetzt die Suche nach immer neuen «Dramentexten» durch die Präsentation innovativer, integrierter Theaterforschungsarbeit. Er will etwas Altes aufgeben und etwas Neues machen. Es darf uns künstlerisch und kulturpolitisch nicht reichen, dass vor über dreißig Jahren Roberto Ciulli in Mühlheim mit seinem «Theater an der Ruhr» eine Strukturdebatte angestoßen hat: «Im Kern geht es um die Frage, wie Theaterarbeit künstlerisch und ökonomisch sinnvoll zu strukturieren ist, ob und wie die vorhandenen, tradierten Theaterstrukturen zu verändern sind. […] Die Frage nach der Struktur eines Systems ist aber die Frage nach seinem inneren Wesen, denn jede Struktur begrenzt und beschränkt die Möglichkeiten und die Fähigkeit mit dem System Welt zu kommunizieren.» Eine Idee muss die Struktur bestimmen, nicht immer wieder umgekehrt.

Ciulli hat die Idee des Reisens, die Migration und damit «einen weiterreichenden Dialog der Kulturen» zu seiner strukturbildenden Idee gemacht: «Die Bewegung, das Nichtverharren an einem Ort fordert Flexibilität und die Fähigkeit zur Improvisation und trägt wesentlich zur Finanzierung des Theaters bei», beschreibt er sein Theatermodell knapp auf seiner Homepage. Shermin Langhoffs Neuanfang am Berliner Maxim-Gorki-Theater macht jetzt wieder solche Hoffnung – und die, dass es nicht wieder für 34 Jahre die einzige Individualisierung einer relevanten «großen» Einrichtung bleibt, erwachsen aus einer kleineren, dem Ballhaus Naunynstraße.

Es mag der Fluch der Flüchtigkeit ihrer Kunst sein, der gerade Theatermenschen das Abgeben, Verwerfen und Neustarten ihrer Strukturen und Lieblingsideen so schwer macht, dass gerade im «Freien» Theater kaum ein Leitungswechsel ohne Not, Krise oder Kleinkrieg möglich scheint. Man ist halt wohl nie fertig? Ähnlich ist es in der Soziokultur. Aber es wäre so viel zu probieren und zu gewinnen, wenn mehr Verantwortliche wagen würden, irgendwomit aufzuhören und wirklich Neues zu beginnen: Ideen von einer Zukunft.

Warum gibt es immer noch kein/kaum Theater im digitalen Raum? Herbert Fritsch hat hier, mit Hamlet X und Elf Onkels, Pionierarbeiten geleistet. René Pollesch hat vor bald 20 Jahren im «Kleinen Fernsehspiel» des ZDF mit «Ich schneide schneller (soap)» TV-Theater gemacht – ob als ästhetische Form, Stoffentwicklung, zeitgemäße Hybridform oder Koproduktionsweise: Warum hat das niemand als Aufgabe auf (s)ein «Haus» übertragen? Manches Hörspiel ist heute theatralischer, dramatischer, lebendiger, authentischer als viele Bühnenspiele – warum gibt den Macherinnen niemand (s)ein gefördertes Theater? Der Dokumentarfilmer Andres Veiel hat als Autor und Regisseur seines Theaterstückes «Das Himbeerreich» am Deutschen Theater Berlin über deutsche Banker gesagt: «Ich habe die generelle Erfahrung gemacht, dass es immer schwieriger wird, an den Zentren der Macht dokumentarisch zu arbeiten. Durch zwischengeschaltete PR-Agenturen und durch ein gewachsenes Misstrauen gegenüber jeder Art von Transparenz ist das kaum noch möglich. Wenn es über die reine Selbstdarstellung von Erfolgen hinausgehen soll, wenn Entscheidungen hinterfragt oder wenn Machtzentren transparent gemacht werden sollen – dann merke ich, dass ich mit der Kamera dort nicht mehr reinkomme. […] ‹Das Himbeerreich› wäre dokumentarisch undenkbar gewesen. Niemand, der mit mir gesprochen hat, hätte das auch vor einer Kamera erzählt. Daher also ein Hoch auf das Theater – die Bühne ist genau der richtige Ort für diesen wichtigen Stoff.» Allein aus diesem Hinweis ließe sich mindestens ein weiteres Theater-Produktions-Team und -Haus grundsätzlich neu erfinden!

Die Herausforderungen in der Beziehung zwischen Literatur und Bühne liegen ja tatsächlich nicht darin, immer neue, nach jahrhundertealten Maßstäben «bühnentaugliche» Dialoge zu erfinden – sondern Theater als Format-Angebot für Autoren, als Portal für Wichtiges und Intensives zur Verfügung zu stellen, nutzbar zu machen. Für die, die etwas zu berichten, darzustellen, auszudrücken haben: Wissenschaftler/innen, Journalist/innen, Philosoph/innen, Biograf/innen, Aktivist/innen, Spezialist/innen – und Künstler/innen. Wie und wo, wenn nicht wenigstens im und mit Theater, sollen die unendlich vielen regionalen, sozialen, sprachlichen, fachlichen und globalgesellschaftlich ebenso risiko- wie innovationsträchtigen Parallelwelten miteinander verknüpft, verbunden, gedanklich und bildlich erlebt, sozial und psychologisch gelebt, ihre Soziolekte, Ethnolekte, Dialekte, Programmier- und Fachsprachen verständlich und durchlässig gemacht werden – im szenischen Verstehen, im Bilder-Finden, in direkter und immer interaktiver Live-Kommunikation?

Szenisches Verstehen, empathisches Erleben, eine Differenzierung von Glauben und Wissen, von Meinen, Kommentieren und Klicken sind unter die Räder einer rein sprachlichen, manchmal noch gedruckten, zunehmend digitalisierten Informations- und Wissensvermittlung gekommen. Diese Digitalisierung nicht nur als unhandliches Reklametool für Altes Theater zu verstehen, sondern als eigene Form eines Neuen Theaters, wäre ein weiterer lohnender Anfang. Das große neue digitale Gedächtnis hält genug vom Alten fest.

Es könnte jetzt mal wieder jemand aufhören, sein Lebenswerk und seinen Erbhof zu retten, #Regietheater und #Werktreue zu debattieren – und riskieren, (sich) Raum und Zeit und Hirn und Geld für Neues zu geben und zu nehmen.

Carsten Werner, April 2014

 

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Nachtrag, Herbst 2014:

oder so?

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Hörspiel des Monats November 2008: Die Störenfriede

In Radio on 9. Dezember 2008 at 12:23

DIE STÖRENFRIEDE
von Marion Aubert

Regie: Ulrike Brinkmann
Produktion: SR / DLR Kultur

Begründung der Jury:

Während die schlaffe Königin nach einer ewigen Dauer der Misswirtschaft die Staatsgeschäfte schleifen lässt, ist ihr Land ausgetrocknet und ihre Bürger lieben schlecht und sterben viel. Die Autorin Marion Aubert und Regisseurin Ulrike Brinkmann erzählen aus einem prekären Märchenland: Hier hat man Ringe unter den Augen und schlechte Laune, man verwahrlost und verkommt, man ist halbtot oder wenigstens desillusioniert. Die professionellen Schmeichler und Narren haben sich auf der Suche nach Lebenskrümeln, Witzrudimenten und Sehnsuchtsresten ohnehin verselbständigt. Jeder ist auf jeden scharf und jeder jedem egal. Der unvermeidliche Hörspiel-Erzähler-Sprecher ironisiert als „Der Nützliche“ (Leopold von Verschuer) Konventionen und Erwartungen zu sinnverlorenen Regieanweisungen und diese zu spitzen Kommentaren. So navigiert er durch die kläglichen Mühen eines Märchenpersonals, das vor dem Verenden wenigstens brockenweise noch ein bisschen Leben, Liebe oder Tod zu erleben trachtet.

Aubert und Brinkmann setzen der Macht der Selbstherrlichkeit ein skurriles Denkmal. In einer verspielten, pointensicheren Dramaturgie skizzieren sie den larmoyanten und desinteressierten Gehorsam der so gerne Untergebenen mit einem wundervoll infantilen, so angemessen lebensmüden wie versauten Ensemble: Satte Sklaven des Alleshabenkönnens quengeln, jammern, motzen, schimpfen, zetern und morden – wieder und wieder und immer wieder von vorne. Die abgeklärte, toughe „Miss Orleans“ alias Jeanna d’Arc alias „Hanni“ kann da ebenso wenig noch helfen wie Gott persönlich: Die eine taugt gerade einmal als erotische Abwechslung, der andere ist so launisch und dämlich wie sein Personal – hat aber mehr zu sagen.

Dabei treffen Autorin und Schauspieler einen so heutig frustrierten und oft sarkastischen Ton, dass der Hörer sich nicht allzu weit entfernt von ihrem kranken Königreich wähnen kann. Lars Rudolph als kunst- und liebesambitionierter Barde, der Fiedler Reinhard Lippert, eine moderne Märchenmusik von Hans Schüttler und ein minimalistisches Sounddesign tragen amüsant bei zu einer herrlich fatalen, unverschämt lustigen Märchenstunde über Gehorsam und Begierde, „über heute“.

Hörspiel des Monats Juni 2008

In Kunst, Radio on 4. Juli 2008 at 11:26

Ernst Ludwig Kirchner – Inside Out
von Elke Heinemann
Regie: Martin Zylka
Deutschlandradio Kultur / WDR Feature / Radio Bremen 2008

Begründung der Jury:

Elke Heinemann hat in einer detaillierten und genauen Recherche aus den Tagebüchern, Skizzen und Briefen des deutschen „Brücke“-Malers Ernst Ludwig Kirchner nachgezeichnet und mit Regisseur Martin Zylka eine Collage zu Kirchners Leben und Sterben geschaffen, die sich mit originalen Zeitzeugenaussagen zu einer spannenden und rührenden kunsthistorischen Reportage verdichtet. Mit Kirchner (gesprochen von Falk Rockstroh) und den ihn umgebenden Menschen fragen sie, ob Selbstüberhöhung im Kunstmarkt eine Notwendigkeit ist – und wie nahe ihr zugleich Selbstmissachtung und –zerstörung sein können: „Bin ich nicht Napoleon, bin ich eine Maus.“ Dabei beschränkt sich das Hörspiel nicht auf eine Auseinandersetzung um Kunst und ihre Triebkräfte, sondern setzt die gesellschaftliche und politische Situation Deutschlands und Österreich mit Kirchners Flucht als Produzent so genannter „entarteter Kunst“ ins Nachbarland in ein Verhältnis zu dessen emotionaler und gesundheitlicher Lage, zu seiner, durch Drogenkosum verstärkten, Einsamkeit. Wie falsch und richtig in dieser Situation Freunde sein und sich verhalten können, wie schwierig Verantwortung und Verbundenheit in Einklang zu bringen sein können, das wird an Kirchners Verhältnis zu seinem Arzt Dr. Bauer – zugleich Sammler seiner Bilder, Förderer und engster Vertrauter – detailliert ausgeführt: Der Verehrer versorgte Kirchner auch regelmäßig mit Drogen und konnte seinen Selbstmord nicht verhindern. 70 Jahre nach Kirchners Tod ist Heinemann und Zylka ein fast zeitloses und Dank seiner Realitätsfragmente fast lebendiges Hörbild über das Verhältnis eines Künstlers zur ihn umgebenden Gesellschaft gelungen.

Hörspiel des Monats September: Séance Vocibus Avium

In Kunst, Radio, Welt on 10. Juni 2008 at 12:11

Séance Vocibus Avium
Von Wolfgang Müller

Hörspiel des Monats August 2008, Begründung der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste:

Wolfgang Müller gibt ausgestorbenen Vogelarten eine Stimme: Er hat Künstler der deutschen Avantgarde-Pop-Szene gebeten, allein auf der Grundlage wissenschaftlicher Aufzeichnungen verstummte, vergangene Vogelstimmen zu rekonstruieren. So wird aus der rein schriftsprachlichen Erinnerung an ausgestorbene Natur wieder lebendige Akustik – und wir werden nie erfahren, ob diese Töne und Stimmen ‚richtig‘ sind oder doch ganz anders als die ihrer tierischen Vorbilder. Mit ihren jeweils ganz eigenen musikalischen und stimmlichen Mitteln und Techniken schaffen die Musiker uns aber die Möglichkeit einer Erinnerung, einer Vorstellung der ausgestorbenen Vögel.

Der Ernst, mit dem Justus Köhnke, Annette Humpe, Frederik Schikowski, Frieder Butzmann, Hartmut Andryczuk, Max Müller, Nicholas Bussmann, Wolfgang Müller, Francoise Cactus, Brezel Göring, Khan und Namosh sich ihrer bio-archäologischen Aufgabe widmen, wird dem Sujet gerecht: Denn die Stimmen ausgestorbener Vogelarten kommen nicht zurück, sind nicht zu archivieren, nicht zu ersetzen – und eben auch bei noch so kunstfertiger Bemühung nicht zu rekonstruieren. Die Künstler verausgaben sich hier uneitel (und letztlich nicht mehr persönlich zu identifizieren) hör- und fühlbar für den Erhalt eines winzigen Moments Natur – und scheitern daran allen Ernstes.

Parallel referiert die Sprecherin Claudia Urbschat-Mingues die wissenschaftlichen Beschreibungen der Vogelstimmen; durch unendlich viele Deutungen und Bedeutungen, Übersetzungen, Synonyme und Interpretationen der Begriffe , mit denen Wissenschaftler die Natur beschreibbar machen woll(t)en, werden auch deren Versuche ad absurdum geführt: Schon nach wenigen Runden des aus Hören, Sagen und Verstehen unweigerlich folgendenden Deutens wird aus der Vogelstimme ein neues ‚Irgendwas‘ aus der Natur oder dem Rest unserer individuellen Erfahrungswelt.

Wolfgang Müller setzt mit seinem Hörspiel der aussterbenden Natur ein akustisches Denkmal – und erzählt dabei viel über die Kraft, aber auch über die klaren Grenzen der Kunst. Für die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Natur hinterfragt er die Maßstäbe – und erfindet ein paar neue.

Carsten Werner

Mitwirkende: Claudia Urbschat-Mingues

Musiker: Justus Köhnke, Annette Humpe, Frederik Schikowski, Frieder Butzmann, Hartmut Andryczuk, Max Müller, Nicholas Bussmann, Francoise Cactus, Brezel Göring, Khan, Namosh, Wolfgang Müller

Die Minute mit Paul McCartney

In Ideenwirtschaft, Konsumempfehlung, Uncategorized on 3. August 2006 at 08:18

Carsten Werner empfiehlt: Die Minute mit Paul McCartney

Das will ich genauer hören: Am 9. März 1967, einen Monat vor meiner Geburt, im Londoner Regent’s Park: Ein Ball, ein Hund, ein Beatle, zwei junge Männer und sieben Mädchen. Und irgendwo anders in London nehmen die jungen „Beatles“ „Getting better“ auf, für ihr später legendäres Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“. Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius als Autor und die Regisseurin Christiane Ohaus haben ein Memory für die Ohren gebaut: „Die Minute mit Paul McCartney“. Ein Hörspiel über wundersame Berührungen und Begegnungen, immer wieder anders beleuchtet – ein Spiel mit wechselnden Perspektiven und schönen Varianten. Radio Bremen präsentiert das Hörkunstwerk am Freitag um 22.05 Uhr als Ursendung im Nordwestradio. In exquisiter Besetzung spielen Gabi Schmeide, Bernhard Schütz, Dietmar Mues, Wolfgang Kraßnitzer und einige Schauspielstars mehr 25 Memo-Arien, die mit Hilfe des Musikers Michael Riessler zu einem facettenreichen Fächer von Stil- und Tonarten der Hörkunst, von literarischen Kompositionen, Satz- und Wortspielen geworden sind. Klingt spannend.

Apropos exquisites Spiel: In diesen Sommertagen weckt ein Neu-Hippie meine Lust auf Kunstgenuss. Wie Johnny Depp sich als lebendes Gesamtkunstwerk sowohl durch Arthouse-Filme als auch durch den Sommer-Blockbuster „Fluch der Karibik 2“ performt, das muss man sich gerade auch als Theatermacher mal genauer angucken: Der Mann ist ja so was wie sein eigenes Theater, mitten im Film. Also widme ich mich in einer verregneten Sommernacht an diesem Wochenende auch mal Captain Jack Sparrow, seinen Piraten und Nachwuchstalent Keira Knightley.

Freitag, 22.05 Uhr, Nordwestradio

3.8.2006 taz Nord Nr. 8038 Bremen Aktuell 63 Zeilen, Carsten Werner S. 22
Rezension

Hörspiel ohne Worte

In Radio, Welt on 25. Mai 2006 at 10:01
Ein gigantisches Kulturprojekt: In Bremen, Berlin und Hamburg, in Florenz, Rom, Barcelona, Lyon, Glasgow, Liverpool, London und Rotterdam haben Millionen Fußballfans dazu beigetragen, eine Kantate für eine Million Stimmen in sechs Sprachen zu produzieren. In 22 Fußballstadien – dort wo sich sonst alles und jeder, alle Mikrofone, alle Kameras und alle Emotionen auf den grünen Rasen in der Mitte der Arena konzentrieren – hat der Regisseur und Autor Alfred Behrens die Fangesänge von Fans aus sechs europäischen Ländern in Mehrkanal-Surround-Technik aufgezeichnet. Behrens ist auf die Jagd gegangen „nach dem Groove des Fußballs“: Vor dem Stadion, in den Pausen und nach dem Spiel blieben seine Mikrofone eingeschaltet – so hat er neben den Gesängen noch viel mehr akustisches Material aus der Fußballfanwelt zusammengetragen. Haben Sie am 13. November 2004 im Weserstadion, Werder gegen Leverkusen, mitgebrüllt? Dann sind Sie vielleicht Teil der Welturaufführung am Samstag im Nordwestradio. Ein ganzes Spiel hat Behrens im März 2005 außerhalb das Stadions verbracht, FC Arsenal London gegen die Bayern – ausverkauft: Da konnte er sich konzentrieren „auf die Menschen, die nicht mehr reingekommen sind. Weil sie keine Karte mehr kriegen konnten, oder weil sie sich keine Karte leisten können. Man könnte einen Film drehen über die Peripherie des Währenddessen-Draußen-Vor-Der-Tür: Match-Food-Verkäufer, Mounted Police, Bierdosensammler, Fan-Schal-Händler.“ Beeindruckend ist die kollektive Kreativität, mit der Fans bekannte Songtexte in Windeseile umdichten und so blitzschnell auf das aktuelle Spielgeschehen reagieren. „You’ll Never Walk Alone“ heißt das fertige Hörspiel, das Behrens aus dem Material komponiert hat – eine 60-minütige Klangkompilation aus treibenden Beats, Schlachtgesängen, Torjubel, Hymnen und Liedern. „Jeder Verein hat seine Musik, seinen Klang“, hat der Autor festgestellt. Um daraus seine „Hörspiel-Kantate“ zu bauen, hat er den gesammelten Stoff nach musikalischen Prinzipien geschnitten und gemischt – Folklore im modernsten Sinne. Weltkultur also mal auf dem Sofa zu Haus: Die Reise geht mit treibenden Beats quer durch Europa. Ohne Worte. Krakeelende Fußballreporter und stammelnde Balltreter kommen nicht vor.

Samstag, 27.5., 20.05 Uhr,
Nordwestradio

27.5.2006 taz Nord Nr. 7981 Bremen Aktuell 83 Zeilen, S. 31

Vision im Ohr

In Kunst, Radio on 13. Juli 2003 at 16:39

Gibsons „Neuromancer“ als Cyber-Oper ohne Sci-Fi-Kitsch

Nicht nur seine Fans sehen in ihm einen Visionär: William Gibson hat vor 20 Jahren in seinem Roman „Neuromancer“ nicht nur das Wort Cyberspace erfunden – er hatte zugleich auch schon eine Ahnung von dem verführerischen Wahn, immer vollinformiert zu sein, sich alles hochladen, updaten, „aus dem Netz saugen“ zu können.

Am Freitag lief der erste Teil von Radio Bremens großem „Neuromancer“-Hörspielprojekt: Es übt keine Zivilisationskritik, umschifft aber auch Sci-Fi-Kitsch und coole Action-Attitüde. Die Cyber-Oper, die Alfred Behrens konzipiert und mit hochspezialisierten Technikern, Musikern und Sprechern realisiert hat, spielt aufs Verwirrendste mit Gibsons visionärem Blick. Sie gibt dem Cyberspace irdischen Raum. Dafür mixt Behrens Alltagssplitter, reportagehaft urbane Töne mit ins Synthetische rutschendem Slang, sodass man hörend immer glaubt, zu verstehen – vor den nächsten Drehungen der absurden Story um Datencowboy Case dann aber doch kapituliert und sich dem Rausch an Sounds hingibt. Case, der Informatiker kann sein Nervensystem per Schnittstelle mit dem World Wide Web verbinden, bis böse Mächte es lahm legen. So irrt er zwischen Hightech und Gosse der Heilung entgegen. Irgendwie alles schon mal gehört. Nur noch nicht so. Der rote Faden ist nicht leicht zu schnappen, aber einmal ins Hörstück reingeraten, macht soviel Ohrsinn richtig Spaß.

Nordwestradio, 88,3 MHz

14.7.2003 taz Bremen Nr. 7103 Kultur 50 Zeilen, S. 23

Panorama für die Nerven

In Kunst, Radio, Welt on 4. Juli 2003 at 23:47

Radio Bremen hat eine Cyberoper produziert. „Neu-Romancer“ ist die ehrgeizigste Produktion des Jahres und erzählt von Nerven-Träumen und virtuellem Wahnsinn

Vor 20 Jahren, im Juli 1983, hat William Gibson auf einer klapprigen Schreibmaschine seinen Roman „Neuromancer“ beendet. Den Erfinder des Wortes „Cyberspace“ – bis vor kurzem erklärter Verweigerer des Internets – katapultierte das Buch zum Kultautor der Science-Fiction-Fans. Das Medium hat ihn eingeholt, unter www.williamgibsonbooks.com schreibt er ein Tagebuch.

Radio Bremens Hörspielabteilung setzt ihm jetzt ein akustisches Denkmal: Der „Neuromancer“ geht nach sechs Jahren Konzeption und Produktion ab 11. Juli als Dreiteiler auf Sendung und erscheint gleichzeitig als Hörbuch. Mit Hörspielchef Holger Rink präsentierte Regisseur Alfred Behrens jetzt seine „bisher größte akustische Herausforderung“ und deren ungewöhnliche Produktionsgeschichte – für Radio Bremen die ehrgeizigste und aufwändigste Produktion des Jahres.

Die Geschichte: Der Datencowboy Case ist am Ende, das Nervensystem von seinen Auftraggebern zerstört. Er erreicht die Matrix des Cyberspace nicht mehr und hält sich mit irdischer Kleinkriminalität und Drogenkonsum im korrupten Tokio über Wasser. Ein Deal verspricht ihm Heilung gegen Datenbeschaffung. Case gerät zwischen konkurrierende künstliche Intelligenzen und driftet in den virtuellen Wahnsinn … – wörtlich bedeutet der unübersetzbare Titel „Neuromancer“ vielleicht Nerven-Träumer.

„Was von Gibsons 20 Jahre alten Visionen hat sich realisiert, was ist Science Fiction geblieben?“, fragt sich Rink. „Wir haben ja heute emotional verarmte Leute mit bedenklich begrenzten Beziehungsmöglichkeiten.“ Und Behrens hat für diesen Übergriff der Technik auf die Nerven ein akustisches Panorama geschaffen: Ständig verpasst man was, will einer Stimme nachgehen, mehr hören – und verliert den Faden, stolpert über Soundbrocken, wird durch Piepser, Töne, Klingeleien irritiert.

Eine „ganz realistische akustische Verortung“ ermöglichten Alfred Behrens eigens eingesammelte O-Töne: Aus Istanbul besorgte ARD-Korrespondent Jörg Pfuhl Reality, den „Notting Hill Carneval“ lieferte die BBC und Malte Jaspersen schickte Tokio-Sounds. In der „Zeit“ las Behrens über Data Pop und Electronica – bald hatte Rink mit den auf solche Töne und ihre Erfinder spezialisierten Labels „morr-music“ in Berlin und „echobeach“ in Hamburg „Label-Deals“ ausgeheckt. Der „Neuromancer“-Soundtrack stammt komplett von ihnen.

In nur zehn Tagen wurden in den alten Studios des Rundfunks der DDR in der Berliner Nalepastraße über 30 Stimmen aufgenommen. Das sparte Fahrtkosten der Schauspieler und ermöglichte Behrens „die umgekehrte Reise mit einer Zeitmaschine, mit diesem Science-Fiction-Stoff zurück in die 60er Jahre“.

Im Bremer Studio spielten sich Behrens, Klaus Schumann (Ton), Claudia Jira (Schnitt) und Wolfgang Seesko (Assistenz) „in einer Art Kollektivimprovisation, mit Wiederholung und Variation“ akustische Bälle zu, spielten und experimentierten mit Sounds, Musik und Stimmen „wie eine kleine Jazzbesetzung“.

Die unvermeidliche Lohnt-sich-denn-all-der-Aufwand-Frage nach der vermeintlich so „kleinen Liebhabergruppe“ der Hörspielfans pariert Holger Rink mit einem kleinen Exkurs zur Verwertungskette der neuen Cyberoper: Am 8. August gibt’s für das „Neuromancer“-Hörbuch eine Record-Release-Party in der Berliner Volksbühne. Die WDR-Popwelle „Eins Live“ sendet das Stück auf ihrem Hörspiel-Sendeplatz, der nachts regelmäßig an die 100.000 Hörer lockt. Andere ARD-Anstalten wollen das Stück übernehmen – macht „mindestens eine halbe Million HörerInnen“, rechnet Rink.

Für so was braucht man die richtigen Stoffe – und Regisseure wie Alfred Behrens, der „etwas ganz anderes als den ARD-typischen Hörspiel-Kammerton“ suchte und fand.

Sendetermine: 11., 18. und 25. Juli, jeweils zwichen 22.05 und 23.30 Uhr im Nordwest-Radio

5.7.2003 taz Bremen Nr. 7096 Kultur 138 Zeilen, S. 27

Ansteckender Wahnsinn

In Kunst, Radio on 16. Mai 2003 at 11:47

Ansteckend: Wahnsinn im Radio
Akustischer Jasmin auf Nordwest

„Jemand durchquert mich auf seiner Reise in mir. Der Mann im Jasmin. Ich bin seine Wohnung.“ Eine faszinierend wirre, schwirrend schwebende Kompilation von phantasierenden Gedankensprüngen, irren Ideen und autobiografischen Fakten hat Regisseurin Christiane Ohaus aus Texten von Unica Zürn gewonnen. „Spiele zu zweit, letztes Spiel“ heißt das Hörstück nach deren Buch „Der Mann im Jasmin – Eindrücke aus einer Geisteskrankheit“: Die Ursendung ist heute um 22 Uhr auf Nordwestradio.

Zürn war hin- und hergerissen zwischen dem Versuch, das Leben trotz und mit ihrer von Zeit zu Zeit ausbrechenden Schizophrenie zu genießen, und dem Bemühen, sich ihre Situation bewusst zu machen. Sie hat das in phantasievollen Sprachgemälden, oft auch in kühl distanziertem Beobachterton aufgeschrieben. 1916 in Berlin geboren, begann sie nach Studium, Heirat und Scheidung Kurzgeschichten zu schreiben und als Dramaturgin zu arbeiten. Seit den 50er Jahren lebte sie in Paris, zum engsten Freundeskreis gehörten die Surrealisten Breton, Arp, Duchamps, Ray und Ernst. 1970 setzte sie ihrem Leben durch einen Sprung aus dem Fenster ihrer Pariser Wohnung ein Ende.

Ohaus und ihre Sprecherin Michaela Caspar zerren den Hörer ständig auf den Boden der Tatsachen, starten ihr Hörkunststück immer wieder neu, mit trocken berichteten biografischen Stationen ihrer Protagonistin – um sie dann in Gedanken und Sphären zu entlassen, in denen sie in rasender Phantasie aus Naturtönen, heranschwebenden Formen und Gedanken immer neue Sprachbilder spinnt: Ein schier „unerschöpfliches Vergnügen: das Suchen nach einem Satz in einem anderen Satz“, findet Zürn.

Das Material entstammt ihrer Phantasie, ihrer Krankheit. Vielleicht ist aber auch im Bett ein Mikrofon eingebaut, das die Töne erzeugt, die dann Worte bilden und Formen heranschweben lassen, denen man so lange lauschen muss, bis – nachts – alles seinen wunderschönen Sinn hat: „Die schönsten Gedanken beginnen zu blühen – wie der Jasmin.“ Es könnte vielleicht sehr schön sein, verrückt zu sein. Und irgendwann konstatiert die Protagonistin schrecklich-schön: „Nach 43 Jahren ist mein Leben noch nicht mein Leben geworden.“

„Spiele zu zweit, letztes Spiel“ gibt den Zuständen und Worten, der Angst und der Kunst Unica Zürns Klänge und Raum – und dem Hörer das verstörende, spannende Gefühl, dass die Sprache ein unzureichendes Medium sein könnte. Man will mehr wissen von dieser Person. Denn diese „Eindrücke aus einer Geisteskrankheit“ sind unvollendet, offen. Für Fortsetzungen, nachts, träumend, im Jasmin vielleicht. Die Krisen von Unica Zürn begannen immer im Sommer.

Ursendung: Nordwestradio

16.5.2003 taz Bremen Nr. 7055 Schlagseite 105 Zeilen, S. 24

Ausgeglichenes Sündenkonto

In Kunst, Radio on 29. November 2002 at 21:00
Ausgeglichenes Sündenkonto

Die Ursendung des Hörspiels „Crazy Gary’s Mobile Disco“ im Nordwestradio

„88.3 – Schicksalsstories von Stage und Backstage, Geschichten über Leidenschaft und Liebe“ – Radio Bremen experimentiert wieder. Heute um 22.05 sendet das Nordwestradio das Hörspiel „Crazy Gary’s Mobile Disco“: Drei Männer erzählen Kerliges und Wehleidiges, stottern Beichten, banal und sprunghaft, absurd allemal. Zum Schreien komisch bis widerlich, wie in den Bekenntnisshows von Bärbel bis Reinhold. Nur: Bei Hörspiel-Regisseur Gottfried von Einem dürfen sie etwas weiter ausholen. Gute 20 Minuten gibt er jeder seiner drei Figuren.

Crazy Gary betreibt eine mobile Disco und macht die Karaoke-Konkurrenz gerne mit der bloßen Faust platt. Doch in einem „wunderschönen Augenblick postmoderner Epiphanie“ verliebt er sich. Mit der „verdammt makellosesten Perle“ könnte jetzt das schönere Leben beginnen.

Pete ist arbeitsloser Künstler, nennt sich „Mathew D. Melody“ und bringt beim Karaoke „mit einem Lied die Liebe zum Leben.“ Aber das Arbeitsamt zwingt ihn an die Supermarktkasse, achtlos wirft er Colaflaschen weg, ermordet ungewollt Kätzchen – oder starrt der Arbeitsvermittlerin auf die Brust. Sein Sündenkonto bringt er mit Blitzgebeten und Erklärungs-Postkarten ins Reine. Ein Lieber, der oft rot sieht.

Russel will seit Jahren cool die Stadt verlassen – und seine Freundin. Doch etwas hält ihn, seine Lady hat leichtes Spiel, den Abschied immer zu verschieben. Eine Geschichte, vor Jahren Stadttratsch, läßt ihn aufhorchen: Zwei Schulfreunde wurden sexuell genötigt… Eine Rechnung ist noch offen.

Unspektakulär schiebt Hörspiel-Autor Gary Owen in seinem Drei-Monologe-Erstlingsstück die Erlebnisse aneinander. Wie im guten Krimi zeigen die letzten Minuten, was drei ausgewachsene Männer – jeder für sich ein Monstrum aus Gefühlen und Gewalt – verbindet. Was sie nötigt, so zu sein, wie sie sind. Der Medienalltag stellt Freaks aus, Owen erzeugt mit sporadischen Andeutungen Background und Tragödie. Angemessen schnoddrig gesprochen, mit heiligem Ernst und spannender Verwirrung, ist das Experiment geglückt: Kino im Kopf, Theater für die Ohren.

29.11.2002 taz Bremen Nr. 6917 Kultur 77 Zeilen, S. 23

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