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Bremen in Riga in Europa erleben

In Kunst, Politik, wörtlich!, Welt on 18. Dezember 2012 at 12:51

Als Bremen sich – leider vergebens – als Kulturhauptstadt Europas 2010 bewarb, hatte sich unsere Partnerstadt Riga an Projekten im Rahmen der Bewerbung beteiligt. Im Jahr 2014 wird Riga Kulturhauptstadt Europas sein, und nun soll umgekehrt sich Bremen mit unterstützenden kulturellen Projekten und der Beteiligung Bremer Künstlerinnen und Künstler revanchieren. Dies ist das Ziel eines in der Bremischen Bürgerschaft einstimmig beschlossenen Antrags.

Ich finde, dass nicht nur die formalen Beziehungen in der Städtepartnerschaft eine Rolle spielen sollten, sondern auch das, was für die Kulturszenen in Lettland wie in Bremen gegenseitig interessant und herausfordernd ist. Vor allem die Bremer KünstlerInnen, Kultureinrichtungen, Projekte, Initiativen und Stiftungen sollten für 2014 konzentriert nach Lettland schauen und sehen, was uns heute mit Riga verbindet – an gemeinsamen Zukunftsideen, gemeinsamer Erinnerung, an Austauschprojekten, Kooperationen und Stipendien.

 

Meine Rede dazu in der Stadtbürgerschaft:

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Kulturhauptstädte Europas sind, so hat das der Ausschuss der Regionen der Europäischen Union gerade festgehalten, “eine der ambitioniertesten, weitrei­chendsten und wirksamsten Maßnahmen der EU im Kulturbereich, die den Reichtum, die Viel­falt und die Gemeinsamkeiten lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Kulturentwicklung zum Ausdruck bringt“. So ist es. Und das kann jeder bestätigen, der oder die die Entstehung von Programmen der Kulturhauptstädte, die Hauptstadtjahre jeweils selbst, und nicht zuletzt auch den jeweiligen Nachklang, den Effekt erleben konnte:

Ob das nun Linz oder Essen, Liverpool oder Tallinn, Istanbul waren oder nächstes Jahr Marseille. Selbst für die Städte, die gerne Kulturhauptstadt werden wollten, für die das aber nicht geklappt hat – wie zum Beispiel Newcastle oder Bremen – hat die Beschäftigung mit dem europäischen Kulturraum, mit ihrer eigenen kulturellen Identität in diesem Raum und ihrer Zukunft, eine erhellende und mit Blick aufs Kulturelle eine öffnende Wirkung. Wir haben das in Bremen erlebt, und wir erleben den Nachhall dieser Auseinandersetzung sieben Jahre nach der gescheiterten Bewerbung immer noch hier und da: In den offenen Beteiligungen an Entwicklungsprozessen im Kulturbereich – aber auch nicht nur im Kulturbereich; wir haben vorhin gerade über die Entwicklungsagentur West gesprochen; das hat, glaube ich, kulturell sehr viel miteinander zu tun – und in Projekten, die damals hier entstanden sind und die heute weiter bestehen.

In die Bremer Bewerbung waren damals natürlich auch Bremens Partnerstädte einbezogen. Ich erinnere mich an gute Projekte gerade der jüngeren Generationen von Kulturschaffenden, in denen zwischen Danzig und Bremen oder zwischen Riga und Bremen kommuniziert, gereist und hin und her geschaltet wurde, im wahrsten Sinne des Wortes zum Beispiel per Internet-Konferenz-Show.  Ich erinnere mich, wie ganz weit vorne Riga damals in Sachen Video und Lichtkunst war, dass die ersten lettischen Regisseure an deutschen Theatern – erst in den freien und dann in den Stadttheatern – zu der Zeit gastierten; dass Künstler aus Bremen, Weimar und Riga gemeinsame Schiffsreisen auf den historischen Spuren von Johann Gottfried Herder unternommen und künstlerisch dokumentiert haben – und dass diese  Video-Chat-Konferenz-Shows zwischen der Waller Kneipe Hart Backbord und einem Rigaer Club stattgefunden haben. Diesen Geist wünsche ich mir auch für 2014 wieder.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Ich glaube, wir tun gut daran, wenn wir wie auch schon in den Jahren 2004 und 2005 in Bremen nicht allein auf die formalen Beziehungen in der Städtepartnerschaft schauen, sondern auch gucken, was darüber hinaus für die Kulturszene in Lettland und die Kulturszene hier bei uns gemeinsam interessant und herausfordernd ist. Ich kann mir zum Beispiel sehr gut vorstellen, dass sich Künstler von dort und von hier gemeinsam Gedanken machen, wie Erinnerung an die beiden Weltkriege fortleben, fortgesetzt werden kann.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

– Zwei im Kern eigentlich europäische Bürgerkriege, die unser Leben bis heute prägen – und die wir gerade auch in den Auseinandersetzungen über und mit Europa in diesen Tagen nicht vergessen dürfen. Wir müssen, glaube ich,  nach dem Ableben der letzten Zeitzeugen, die selbst dabei gewesen sind, Fantasie und Ideen nutzen, um uns zu erinnern.

Ich würde mir wünschen, dass die vielen Austauschprojekte, Kooperationen und Stipendien, die Bremer Kultureinrichtungen durchführen oder mit Initiativen und Stiftungen ausschreiben, für das Jahr 2014 einen konzentrierten Blick nach Lettland werfen – und schauen, was uns heute mit Riga verbindet und was uns in Zukunft gemeinsam sein kann. Wir bitten den Senat, solche Initiativen positiv zu begleiten – und wir bitten die Einrichtungen, nach Riga zu schauen und sich mit Riga zu beschäftigen, wo das möglich und interessant ist.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Die Europäische Kommission bringt gerade die Kulturhauptstadt-Ausschreibungen für die nächste Dekade, für  2020-2033, auf den Weg. Danach wäre Deutschland erst im Jahr 2025 wieder an der Reihe. Aber Europa ist Austausch – und da sollten wir dabei sein, nicht erst wenn Deutschland an der Reihe ist, und wir sollten daran teilhaben, wo und wie es eben geht. Deshalb wäre eine Beteiligung Bremens an der Europäischen Kulturhauptstadt Riga nicht nur eine Geste an unsere Partnerstadt – sondern auch eine schöne Chance, unsere eigene Stadt, Bremen, in Europa zu erleben!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Vielen Dank.

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Ein vorauseilender Sommernachtstraum: Bremen 2022

In Ideenwirtschaft, Politik, Stadt, Welt on 3. Dezember 2012 at 10:00

Für die Bremer Grünen verfassen Mitglieder jeden Freitag einen Meinungsbeitrag. Im Sommer haben wir uns Gedanken gemacht, wie die Zukunft unserer Stadt aussehen könnte, für die wir arbeiten – Grüne Denkanstöße zur Diskussion und Verständigung.

 

Hier mein vorauseilender Sommernachtstraum: Bremen 2022 – kreative, soziale Stadt der Ideen!?

Auch viele grüne Kollegen haben sich sommerliche Gedanken gemacht:

Robert Bücking meint: Der Geist der Bürgerbeteiligung ist aus der Flasche. Den bekommt man da auch nicht wieder rein. BürgerInnen wollen mitreden, machen sich schlau, machen Druck, definieren ihre Ziele und Interessen, an allen Ecken und Enden der Stadt. Wie geht es damit weiter?

Hermann Kuhn fällt auf, dass Wünsche und Träume und gute Absichten ziemlich selten durch Politik machbar und beeinflussbar sind. Deshalb: eine Mahnung zur Bescheidenheit – und Ideen für 2020.

Kirsten Kappert-Gonther: Bremen ist reich, Bremen und Bremerhaven sind reich an der Vielfalt der Menschen, ihrer unterschiedlichsten Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse, ihrer unterschiedlichen Herkunft, ihres unterschiedlichen Glaubens, ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten.

Joachim Lohses grüne Visionen und Fakten für Bremen: Klimaschutz, Wohnungsangebote sowie bessere und nachhaltige Verkehrsbedingungen für alle Verkehrsteilnehmer.

Zahra Mohammadzadeh über den Anfang der Menschwerdung, an dem wir noch stehen – ein Augenblick in Millionen Jahren Evolution.

Michael „Pelle“ Pelster über Gesche und Roland im Jahr 2020 – und was bis dahin zu tun ist.

… und jeden Freitag gibt es eine neue grüne „Meinung am Freitag“.

 

Ein vorauseilender Sommernachtstraum: Bremen 2022 – kreative, soziale Stadt der Ideen!?

Bremen hat sich seiner Eigenheiten besonnen und lockt mit seinem Stadtmarketing Besucher, die sich für die Soziale Stadt, eine Stadt diversifizierter Quartiere und Communities interessieren, die im Austausch und Ideenstreit miteinander den Stadtstaat als Experimentier- und vor allem Erkenntnislabor für die überall wachsenden Städte in Deutschland entwickeln: Bremen ist als erste deutsche Großstadt „European Transition Town“ die unter dem Motto „Stadt der Ideen“ Wert auf regionale und lokale Versorgung, eigenständige und sublokale Entwicklung legt. Bremens tradiertes Image und Selbstverständnis als tolerante, soziale und kreative Stadt mit hoher Lebensqualiät und ökologischem Anspruch war dafür eine ebenso wichtige Voraussetzung wie die Erklärung aller Bundesländer und der Bundesregierung zur Eigenständigkeit und Entschuldung Bremens von 2020.

Dafür hat Bremen schon Jahre zuvor die Weichen gestellt und gute Voraussetzungen geschaffen: In der City wird wieder gewohnt und gelebt. Arbeiten und Wohnen gehören wieder zusammen. Eine kleinteilige, konkrete Stadtentwicklung zur sozialen Durchmischung des Wohnens und Arbeitens, aber auch des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens wirkt sich auf alle sozialen Bereiche, aber auch auf die Inhalte der wissenschaftlichen, kulturellen und medialen Angebote aus. Teilhabe ist kein fernes politisches Ziel und kein weitgehend undefiniertes politisches Projektionsfeld mehr, sondern gelebte Erfahrung und Verantwortung. So gewinnen Visionäre, WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und kreative UnternehmerInnen zunehmend Einfluss auf Politik und die städtische Entwicklung: Sie bilden neue Träger und übernehmen gesellschaftliche Aufgaben. BürgerInnen und IdeeninvestorInnen entwickeln Quartiere, erkennen und planen Veränderungen für ihre Stadtteile, schaffen Öffentlichkeit, entwickeln ihre Räume und Gebäude, ihre sozialen Einrichtungen und ihre Natur. Brachen sind keine Problemzonen, sondern eröffnen neue Möglichkeiten.

Die Bremische Bürgerschaft hatte dazu 2015 ein umfangreiches Genossenschafts-Förderprogramm beschlossen. Im Bremer Parlament sitzt inzwischen auf jedem 5. Platz ein Mensch mit familiären oder frischen, konkreten Erfahrungen, die wir 2012 noch als „Migrationshintergrund“ bezeichnet haben – auf jedem 10. Sitz haben KünstlerInnen, PhilosophInnen und Kreative Platz und Stimme gefunden. Das Senatsressort für Stadtentwicklung ist längst auch für Kultur, für Stadtmarketing und Tourismus zuständig.

Aus dem ehemaligen Bürgerrundfunk und dem ehemaligen Stadtportal „bremen.de“ war 2015 ein öffentlich-rechtliches Stadtmedium geworden, in dem Kinder, Lehrende und Lernende, Kreative und WissenschaftlerInnen, Bürgerredaktionen und Alltagspezialisten aller Quartiere und Disziplinen Bremens sich gegenseitig informieren, beraten und gemeinsam Bremens Ideenreichtum und Bremens Entwicklungskraft darstellen und im Diskurs weiter entwickeln – 2022 bekam „Bremen Live“ dafür den Grimme-Preis und einen Echo. Die offen und jederzeit sichtbaren Ideen der BremerInnen und Bremer haben auch das lokale Tageszeitungsmonopol radikal verändert: Der Weser-Kurier erreicht weiter fast jeden Haushalt – als populäre Wochenzeitung, die sich mit relevanten Ideen beschäftigt, mit viel journalistischer Energie und Neugier tiefer Analyse, Aufklärung, Teilhabe und Zukunftsideen widmet, mit den Bremern und ihren Gästen Haltungen, Gemeinwesen, Heimat und Zugehörigkeit entwickelt. Nachrichten empfängt man per Internet und Digitalrundfunk.

Die Quartiere und die Bremer City können frei von Autos befahren werden – der Autoverkehr ist aber aufgrund der guten Nahversorgung und der hohen Anschaffungs- und Betriebskosten radikal zurückgegangen und wird immer weniger als Bedrohung für andere Verkehrsteilnehmer und das Stadtbild empfunden. Carsharing ist das Mittel der Wahl, die Bremer Straßenbahnen haben Lasten-Abstellflächen und Leih-Lastenfahrräder gibt es wie alle anderen Fahrradtypen an vielen Stellen der Stadt unkompliziert „to go“ … Rollatoren, Skater und Kinderwagen gehören als Verkehrsteilnehmer zum Stadtbild, Fußgänger und Fahrräder werden immer mehr zum Maßstab der Straßengestaltung.

Die Bebauung des Rembertiviertels hat sich aufgrund der vielfältigen Ansprüche der genossenschaftlich organisierten Baugruppen verzögert und soll jetzt im Sommer nächsten Jahres als autofreies Cityquartier eröffnet werden. Die Hochstraße wird nun doch nicht abgerissen, weil eine Bürgerinitiative sich erfolgreich für den Erhalt der seit ihrer Stilllegung entstehenden und durch Guerillagärtnerei intensivierte Vegetation eingesetzt hat: Der Bürgerparkverein hat sich im Rahmen der Bewerbung als „Transition Town“ bereit erklärt, diesen grünen Park-Streifen in der Bahnhofsvorstadt zu pflegen und ökologisch weiter zu entwickeln. Dazu hat er mit interessierten Bürgern ebenfalls eine Genossenschaft gegründet. Verantwortung entsteht in Bremen zunehmend auch aus Teilhabe – am gesellschaftlichen Wirken, aber auch an Eigentum.

Oberneuland hat sich zur angesagten Künstler- und Familienkolonie im Grünen entwickelt, die 2015 aus der „Entwicklungsagentur West“ hervorgegangene Investitionsgesellschaft für den Bremer Westen feiert unter dem Label „Reicher Westen“ den erfolgreichen Abschluss der städtebaulichen Sanierung – neben anderem mit einem „Theater der Kulturen und Religionen“ im ehemaligen Waldau-Theater, mit konfessionell und sprachlich, kreativ und sportlich spezialisierten Ganztagsschul-Profilen. Die Überseestadt ist durch einen Rückbau der Nordstraße an Walle herangerückt. Architektonisch macht Bremen seit einigen Jahren durch eine kleinteilige und flexibel nutzbare, einfache Architektur auf sich aufmerksam, in familiäre Wohneinheiten und Single-Wohnen, generationengerechtes und -übergreifendes Wohnen und Arbeiten miteinander vielfältig und variabel kombiniert werden können – der Senat hatte dazu unter international renommierten Architekten Wettbewerb zur Neuerfindung des Typus „Bremer Haus“ ausgeschrieben und zehn Modelle prämiert sowie Bauinteressenten zur Nachahmung empfohlen und freigegeben.

Die Mobilität des Reisens ist deutlich teurer geworden – insofern gilt es für touristisch geprägte Städte und Regionen, sich für längere, mehrwöchige Aufenthalte interessant und erlebenswert zu machen. Am 1. Januar hat das erste sozialwissenschaftliche Science Center mit Lern-, Spiel- und Experimentierangeboten zu Toleranz, Nachbarschaft und Streitkulturen eröffnet, ebenfalls noch in diesem Jahr soll in einem zweiten Modul ein populärwissenschaftliches Institut Programmangebote zu den Themen Angst und Sorge, Mut und Courage machen. Das Universum widmet sich in einer komplett neuen Sonderausstellung den international ausgerichteten Themenkomplexen Mobilität, Migration und Kulturen des Teilens – in einer Public Private Partnership mit dem aus Übersee- und Fockemuseum fusionierten Historischen Museum Bremen. Dessen Museen werden sukzessive um zahlreiche Außenstellen erweitert: Das Konzept „Erinnerung im Leben“ sieht den Erhalt und die Bespielung oder wirtschaftliche Nutzung von denkmalgeschützten Gebäuden und Inneneinrichtungen vor. Der Bunker Valentin entwickelt als zentrale Gedenk- und Erinnerungsstätte mit einer innovativen multimedialen Bespielung und Stipendienprogrammen für junge AutorInnen und BildkünstlerInnen Kriterien und Formate für Erinnerung und Gedenken der Generationen nach dem Ableben der letzten Zeitzeugen.

2030 soll die 222. Weltmeisterschaft in Bremen stattfinden – nach bis dahin 221 Randsportarten die 1. Weltmeisterschaft der nun boomenden Funsportarten. Ebenfalls für 2030 wird mit Botanica, Bürgerpark, der Wümmeniederung, Hollerland, Hemelinger Marsch und dem neuen Naturschutzgebiet Unisee sowie einigen kleineren, sublokalen Naturerlebnisräumen eine Bundesgartenschau als Großstadt der regionalen und städtischen Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren geplant. Denn gesundes, regionales Essen und gesundes (Stadt)leben sind längst ein touristisch relevanter Faktor geworden.

Die Kreativwirtschaft ist zum wesentlichen Standortmerkmal des produzierenden Gewerbes, Handwerks und auch des Handels geworden: Fahrradwirtschaft, Mode, Souvenirs, Kunsthandwerk sind inzwischen Reiseanlässe für Bremen-Besucher. Die Kreativwirtschaftsförderung hat Bremen mit offenen Werkstätten für alte und neue Produktionstechniken in Kunst und Handwerk – hervorgegangen aus der Neuaufstellung von Fockemuseum, Städtischer Galerie, Designzentrum, Güterbahnhof und Schwankhalle – zu einem Hotspot auch reisender Kreativer im nationalen und internationalen Kulturaustausch gemacht, die als Gäste neben deren technischen Möglichkeiten auch temporäre Ateliers nutzen können. Die ehemalige „Hochschule für Künste“ wird gerade zur „Schule der Improvisation“, hat einen neuen Lehrstuhl für Zeitpolitik und bietet auch Aus-, Fort- und Weiterbildungen außerhalb der Hochschul-Studiengänge für verschiedene Branchen der Kreativwirtschaft an. Das Klaus-Kuhncke-Archiv, das Studienzentrum für Künstlerpublikationen und das Tanzfilminstitut sind unter dem Dach der Hochschule zum Institut für kulturelle Dokumentation fusioniert, das für acht Jahre vom Google-Konzern aus dessen Gewinnen aus der Facebook-Übernahme finanziert wird. Radio Bremen hat von der ARD den Auftrag und die Finanzierung zugesagt bekommen, als Modell- und Referenzprojekt des Senderverbundes gemeinsam mit der Stadtbibliothek sowie Partner aus der Verlags- und der Filmbranche ein öffentlich-rechtliches On-Demand-Portal für Wissen und Kultur zu entwickeln. Open Airs und Festivals bespielen schon seit einigen Jahren die Stadträume nicht nur der City alljährlich von Juli bis September durchgehend mit Kultur „umsonst und draußen“ – der Bremer Kultursommer lockt immer mehr Touristen in die Stadt, die Hotels sind in dieser Zeit oft ausgebucht und temporäres Wohnen im Grünen, auf dem Wasser und in Zwischennutzungen werden auch von Touristen immer stärker nachgefragt. Das ehemalige DDR-Fischfang-Motorschiff „Stubnitz“ pendelt immer noch einmal jährlich zwischen London und Bremen im Dienste des kreativen Ex- und Imports und als Schaufenster der kreativen Branche. Die Bremische Landesvertretung in Berlin veranstaltet schon seit 2015 jährlich im Frühling ein Kulturfestival „made in Bremen“ in der deutschen Hauptstadt.

Alle Zuwendungsempfänger Bremens sind aufgefordert, Bildungs- und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche in ihren Betrieb zu integrieren – jede Grünanlage, jede Kultureinrichtung, jeder Sozialträger bieten Beschäftigung und Bildung für junge Menschen. Denn die Übergänge zwischen Kindergarten, Schulen und weiterer Ausbildung werden fließender. Die demografischen Veränderungen prägen die Bildungslandschaft transkulturell und generationenübergreifend: Gruppenstärken schrumpfen, Betreuungsquoten steigen, Alte und Junge lernen und arbeiten zunehmend voneinander und gemeinsam. Berufliche Bildung wird sich im Schnitt alle 10-12 Jahre grundsätzlich erneuern müssen. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit sinkt deutlich unter 30 Stunden. Grüne Bundesministerinnen fordern vehement die inführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.

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Zur Orientierung: Ein Blick zurück von vorn, 2012:

In den vergangenen 5 Jahren
– ist Radio Bremen in die City gezogen und hat sich als trimediales Funkhaus neu erfunden.
– ist Bremen nicht Kulturhauptstadt Europas geworden, sich aber seiner Kraft als Kulturstadt bewusst geworden.
– ist Bremen bei jungen Menschen eines der beliebtesten deutschen Reiseziele geworden.
– ist Osterholz-Tenever vom prekärsten Stadtteil Bremens zu einer sehr gefragten, lebenswerten Hochhaussiedlung mit einer der besten Schulen Deutschlands geworden.

In den vergangenen 10 Jahren
– ist die neue Überseestadt entstanden
– der Spacepark entstanden, gescheitert und von der „Waterfront“ beerbt worden.
– hat Radio Bremen einen Großteil seiner bis Ende der 90er zur Verfügung stehenden Mittel verloren.
– hatte Bremen das erste deutsche Science-Center
In den vergangenen 20 Jahren
– hat Bremen die Werftenpleiten erlebt.
– hat sich Bremen als „Stadt am Fluss“ entwickelt, die Schlachte etabliert und das Stadtleben wieder dem Fluss zugewandt.
– sind in Bremen ca. 20 Kultureinrichtungen und alle Kulturfestivals entstanden.
– haben Computer und Internet Einzug ins alltägliche und kulturelle Leben gehalten.
– war Radio Bremen die wichtigste deutsche Ideen- und Talentschmiede der Fernsehunterhaltung und des Lokalfernsehens.
– ist Bremen zum wichtigen Ziel des klassischen Städtetourismus v.a. für ältere Menschen geworden.

Ein bisschen was geht immer!

Was wir dazu brauchen?
– Eine gerechte Steuerverteilung und einen guten Länderfinanzausgleich.
– klare soziale Ansprüche.
– Partner ohne Angst vor Veränderungen, Ideen und auch mal Experimenten.
– Vertrauen in die nachwachsenden Generationen und ihr Innovationspotential – auch als Träger gesellschaftlicher Aufgaben.
– Vertrauen in Wissenschaft und Kunst.
– Verständnis für Veränderungsängste, Respekt, Akzeptanz und Realismus: Zeitgenossenschaft.
– Neugier.
– Glück.

Bremen ist erneuerbar.

Bahntugenden

In Medien, Welt on 25. September 2010 at 02:47

Ich durfte mich heute zwischen Berlin und Bremen sechs Stunden darüber freuen,

 – dass die Deutsche Bahn es schafft, in ihren automatischen Ansagen und Bahnsteiganzeigen für ein und denselben Zug GLEICHZEITIG, im selben Laufband und abwechselnden Durchsagen, 10-20-45-60 Minuten „wegen Bauarbeiten“ und 40-75-80 Minuten „wegen eines Notarzteinsatzes“ Verspätungen zu verkünden; wobei die letzten Scheibchen dieser scheibchenweisen Verkündigung auch noch liefen, als schon 95 Minuten rum waren.

– wie old Helmut Schmidt dem Bahnchef DOKTOR (!) Rüdiger Grube und seinem blonden Beiböötchen DOKTOR  Antje Lüssenhoop, Leiterin PR und Interne Kommunikation der DB, in einem „Interview“ über Moral und Anstand und Tugenden und Werre im DB-Magazin „mobil“ einschenkt: „Ich heiße Schmidt, schon seit über 30 Jahren, da bleiben wir bei.“ – um sodann die servilen Fragen des Vorstandschefs DOKTOR (!) Grube abzuledern: Nach Werten „wie Glaubwürdigkeit, Respekt, Loyalität, Fleiß und Begeisterungsfähigkeit“ („die lernt man auch nicht auf der Harvard Business School, in St. Gallen auch nicht und in Oestrich-Winkel auch nicht“). Nach des DOKTORS (!) Befürchtung, „die Nutzung der neuen Medien könnte dazu führen, dass Kommunikation oberflächlicher wird“ („Ob der Medienkonsum aber auch notwendigerweise einen Verlust an Moralität unterstützen muss, da würde ich zögern mit der Antwort. Denn es hat ja auch im alten Griechenland, im alten Rom, in Mittelitalien, in Venedig, in Gent, in Siena (!) nicht immer nur den ehrbaren Kaufmann gegeben, sondern auch ganz üble Geschäftemacher. Es hat auch immer Mörder, es hat auch immer Diebe, es hat auch immer Betrüger gegeben.“) Nach „Werten wie Respekt, Anständigkeit und Offenheit“ in Freundschaften („es müssen nicht unbedingt Freundschaften sein“) und nach dem Grundgesetz, das inzwischen besagt, dass die Bahn „ein Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form ist“ („Das steht neuerdings im Grundgesetz? Das wusste ich auch nicht.“). Nach famosen Exkursen in die Wirtschaftspolitik gehts dann noch mal um Sekundärtugenden: Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. „Die Eisenbahn möchte bitte pünktlich sein“, schließt Schmidt. Insgesamt ein schönes Beispiel für die Kraft des guten Arguments, echten Lebens und wahren Denkens gegenüber windelweichem PR-Gesäusel!

– dass ich erleben durfte, wie es Dr. (!)  Grubes Bahnpesonal in concreto „mit Werten wie“ Glaubwürdigkeit, Respekt, Anständigkeit und Offenheit und Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit hält. – Sagen wir mal: Loyal mit dem Arbeitgeber;  in Hamburg „gibts Freitagabend um Mitternacht doch keine Hotelzimmer“, Taxifahrten gibts nur zu sechst – auch wenn man dafür noch mal 35 Minuten auf ein Großraumtaxi warten muss. Und das 1 Meter lange Formular für die Erstattung eines überschaubaren Fahrpreisanteils „füllnsedasdochselbstaus!“.

– dass ich dann noch 90 Minuten im Taxi sinnieren durfte: „mit dem Auto über die A1 oder mit der Bahn einfach mal losfahren – was ist denn jetzt wirklich besser?“ Bin noch unentschieden.

– dass man auch mal nachgeben muss, dass man auch mal offline muss: Laptop im Taxi klappt nicht.

Auf Wiederhören

In Medien, Radio, Stadt, Werner on 12. November 2007 at 23:29

„Alles was Radio kann“ beim Deutschlandradio

Die Klischees sind lange schon aufgeschrieben: Die Generation Golf saß im Bademantel vorm Fernseher und durfte vorm Schlafengehen noch „Dalli Dalli“ gucken. Das Deutschlandradio macht jetzt Ernst, nimmt sentimentale oder junggebliebene Quiz-, Radio- und Retrofans beim Wort und schickt Hans Rosenthal zurück ins Wohnzimmer. Zur wahren Bademantelzeit am Sonntagmorgen um 8 Uhr gibt es unten dem neuen Deutschlandradio-Wochenendmotto „Alles was Radio kann!“ eine Folge „Allein gegen alle“ aus dem Archiv. In dieser Radio-Mutter fast aller Fernsehshows stellt eine Person – gerne Oberstudien- räte und Oberlandesgerichtsräte – einer ganzen Stadt fünf Fragen, die in 15 Minuten beantwortet werden müssen. Um das nachzuvollziehen: „Frage 1: Welcher deutsche Musiker komponierte im Jahre 1875 für die 100-Jahr-Feier der Vereinigten Staaten von Amerika einen Marsch? – Frage 2: Die Porträtbüste welches weiblichen Mitgliedes des römischen Kaiserhauses war so gearbeitet, dass der obere Teil des Kopfes wie eine Perrücke abzunehmen ging, um bei etwaigem Wechsel der Mode ausgetauscht werden zu können? – Frage 3: Wie heißt der Schutzpatron der Gepäckträger? – Frage 4: Wo ließ Johann Gottfried Seume auf seinem Spaziergang nach Syrakus zum zweiten Mal seine Stiefel besohlen? – Frage 5: In welchem Bau ließen alle Universitäten der Welt zu Ehren eines großen Mannes eine Marmorplatte legen?“ Klären Sie das mal mit ihren Nachbarn, ohne Google, in einer Viertelstunde! Radio- und Fernsehredakteure von heute trauen Ihnen das jedenfalls nicht zu.

„Die Sonderrunde“ schließlich war die Urmutter aller „Wetten, dass …?“- Außenwetten: Mindestens 100 Bürger bitte zur Gymnastik auf den Marktplatz von Vechta, 25 Erwachsene zum Rennen mit Kinderrollern nach Delmenhorst: Sage und schreibe 100 Mark brachte die gelöste Aufgabe – für die Stadtkasse. Die Gags sind also geblieben – die Rätsel sind ja einfacher geworden, wenn heute in Call-Ins ein „Tier mit A“ mit 1000 Euro belohnt wird.

„Allein gegen alle“ geriet zur – auch kommunikationstechnisch – faszinierenden Rundreise durch die Provinz, wenn Hans Rosenthal zum Marktplatz oder in die Schulaula schaltete und seine Reporter unter zeitlichem Hochdruck die Bürgermeister und Oberstadtdirektoren Lösungen verkünden ließ, die die minutenschnell telefonisch von ihren Einwohnern eingesammelt hatten. Schwetzingen, Vechta, Melle, Kellinghusen und Delmenhorst (drei mal siegreich und gegen den Berliner Postbeamten Siegfried Luckmann nur an der Frage nach dem ersten Heiratsinserat – „im Delmenhorster Kreisblatt war es nicht“ – gescheitert!) mussten sich erst einmal durchsetzen, bevor sie gegen größere Städte und deren gesammeltes Wissen antreten konnten. Nach drei siegreichen Runden durfte eine Stadt sich mit dem Titel „Unschlagbare Rätselstadt“ schmücken – vermutlich eine weitaus integrativere Anstrengung, als weltrekordtaugliches Krähen (oder wars Miauen, Bellen, I-A-en?) auf dem Bremer Bremer Marktplatz anno 2007.

Faszinierend ist beim heutigen Nachhören aber vor allem die technische Perfektion, mit der Hans Rosenthal und seine Reporter blitzschnell, hellwach, präzise und virtuos zig mal zwischen Bürgermeistern, Rollerrennstrecken und nächster Stadt kreuz und quer – „bitte melden, bitte melden!“ – hin und her schalteten, Juryentscheidungen und Publikumsstatements einholten und zwischendurch noch die Creme der deutschen Unterhaltungsmusik spielen ließen, live natürlich und immer wieder nur bis zum „Lichtsignal“ für den nächsten Antwortversuch, dessen Erfolg ein – selbstverständlich ebenfalls live gespielter – Jingle krönte.
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Schön wärs: Kreativ altern

In Politik, Stadt on 22. Oktober 2007 at 23:33

Den denkmalgeschützten Sendesaal von Radio Bremen halten Künstler, Medienmenschen und Politiker in seltener Eintracht für ein erhaltenswertes Bau- und Kulturdenkmal – zumal eines, das nicht nur Erinnerungsfunktion, sondern mitten im Leben internationales Renommée und einen hohen Nutzwert hat: als Konzertsaal, als Studio und Produktionsstätte für Klassik, Jazz und zu Pop, Rock und Hörspiel. Obwohl das unstrittig ist, soll der Saal seinen Denkmalschutz verlieren und, möglicherweise, abgerissen werden.

Das ist ein hartes Signal zum Auftakt einer neuen Kulturpolitik der rot-grünen Koalition: Kultur soll in der “kreativen Stadt“ (grün) ja als “Motor der Stadtentwicklung“ (rot) behilflich sein, den Strukturwandel vom Industriestandort hin zu Lebensqualität, Wissen, Tourismus und Dienstleistung unterstüt- zen, der alternden Gesellschaft das
Altern erleichtern.

Daraus einfach steigende Kulturbudgets ableiten zu wollen, greift zu kurz: Die (arg verspätete) Beschäftigung mit “kreativen Industrien“, “Ideenwirtschaft“ und “weichen Standortfaktoren“ dient natürlich nicht allein der Förderung der Kunst, geht über klassische Kulturpolitik weit hinaus: Es geht um Stadtentwicklung, Arbeitsmarkt und Soziales, um Bildung und Wirtschaft. Kultur bekommt im Geflecht des Staates Aufgaben (wieder). Alleine lösen kann Kunst gesellschaftliche Problemstellungen höchstens punktuell. Mit ihrer Erfahrung und Kompetenz aber können Kreative in der Gesellschaft beraten, unterstützen, motivieren und vielleicht auch vor Irrwegen bewahren.

Dass das Label “kreativ“ also nicht automatisch zur Überweisung von Millionenbeträgen an feilschende Investoren führt, müsste daher nicht betrüblich stimmen. Wenn denn sonst die Richtung klar wäre für die “kreative Stadt“, wenn denn klar wäre, dass Bremen um seine Ressourcen wüsste und sie für die Zukunft zu nutzen wüsste!

Wer aber in Bremen einen der neuen “kreativen Berufe“ lernen will, begibt sich auf eine frustrierende, oft demütigende Tour durch Kultureinrichtungen, Hochschulen und Kammern, von der Arbeitsagentur zu big zu bagis und wieder zurück. Auch fürs Alter sind die Perspektiven noch nicht verlockend: Die “digitale Bohème“ – Sinnbild, Vorreiter oder jedenfalls Stichwortgeber für den angestrebten Strukturwandel – wird ja auch alt: In 30 Jahren sind die kreativen Freiberufler von heute angewiesen auf altersangemessenes Wohnen, ein sie akzeptierendes und von ihnen akzeptiertes Umfeld, zehn Jahre später vielleicht auf Pflege. Ein MusicVillage auch für alternde Kreative rund um den alten Sendesaal wäre eine schöne Perspektive – schöner als die Vorstellung, die Nachmittage bei Seniorentalkshows im Überseemuseum
verbringen zu müssen, finde ich.

Erst einmal aber haben Radio Bremen und die vergangene Große Koalition den Sendesaal verschachert, Verantwortliche dafür prägen weiter das Stadtleben. Und 30 Jahre (acht Legislaturperioden) sind zu weit weg, um heute politische Entscheidungen zu bewegen. Ob Wirtschaft und Kultur weitsichtiger und nachhaltiger und zusam- men arbeiten können, zeigt sich demnächst wohl auch am guten, alten Sendesaal.

Provokation? Quatsch!

In Kunst, Politik, Werner on 1. November 2001 at 09:00

Bremen schasste Theaterdirektor Hübner trotzdem. Unter seiner Hand wurde das Theater zum Talentschuppen und Bremen zu einer wilden Stadt

Die Bremer Theater-Ära Hübner endete 1973. Carsten Werner, freier Regisseur und Leiter des Jungen Theaters, war damals grade mal sechs. Für die taz sprach er mit der Theaterlegende, die für junge Theatermacher nach wie vor Vorbild ist und der er als Entdecker noch immer zur Seite steht.

taz:Herr Hübner, Sie werden gefeiert als der große Anreger, Entdecker, Zusammenbringer und Animator des deutschen Theaters, als Legende und Vorbild vieler jüngerer Intendanten. Stört Sie das, dass der Regisseur und Schauspieler Kurt Hübner in den Lobreden so wenig vorkommt?

Kurt Hübner: Nein, gar nicht. Denn das hängt ja auch mit mir zusammen, daß ich immer Leute suchte und gefunden habe, von denen ich meinte, sie sind besser als ich oder sie könnten mich in irgendeiner Weise weit übertreffen. Und das hat den Ruhm des Theaters ausgemacht, dass ich diese Regisseure fand und hier her holte, die innovativ waren und unverwechselbar: Zadek, Stein und Grüber, Kresnik und Fassbinder, Wilfried Minks und viele andere – das waren alles unverwechselbare Leute.

Man sagt Ihnen Neidlosigkeit nach …

Neidlos bin ich. Dass ich das zustande gekriegt habe, dass hier was blühte, mit diesen Menschen, und dass man das nicht vergessen hat, das ist meine größte Genugtuung.

Sie feiern Ihren 85. Geburtstag in Bremen und tragen sich ins Goldene Buch der Stadt ein. Da haben Sie den heutigen Tag Ihren „Versöhnungstag mit Bremen“ genannt.

Ich möchte es so gerne. Und ich möchte alles wegschaufeln, was schwere Wunden gerissen hat. Es sind neue Leute da, eine andere Generation. Es sind ja nur wenige von den Politikern übrig, die für mich Monster waren, an Unwissenheit und auch an Unverschämtheit. Den Bremern von heute will ich doch nicht das mehr übel nehmen, was die Leute damals an uns Brutales und Mörderisches versucht haben. Das ist vorbei. Es muß Versöhnungstage geben, überhaupt, grundsätzlich in der Menschheit.

Wissen Sie, was man in Bremen gegen Sie oder Ihr Theater hatte?

Es waren aufregende, wilde, schwierige Zeiten. Und das Wilde wurde von den Politikern reflektiert und war eine Last. Es sollte doch mit der Kunst, mit dem Theater angenehm bequem bleiben, nicht ständig neue Auseinandersetzungen! Ich war denen vielleicht unheimlich.

Wollten Sie provozieren?

Quatsch. Wir wollten lebendiges Theater machen, das die Leute wach hält und wach macht, aber niemanden aus dem Theater vertreiben! Ich war Theaterdirektor und wollte, dass möglichst viele Leute kommen – und es sind viele gekommen, auch junge Menschen, die vorher nicht ins Theater gegangen sind.

Hans Koschnick sagt, Ihr Theater habe Politik und Gesellschaft neue Anstöße gegeben.

Ja, da war er eine Ausnahme. Nach außen hin hatte er immer seine große Zuneigung gezeigt zu dem, was wir machten. Er war ein wunderbarer Fan. Er war aber nach Innen, in die Politik rein, ein bißchen gehandicapt – der Bürgermeister hat sich nicht in andere Ressorts einzumischen. Da hat er dann so eine Bremer Vornehmheit walten lassen, über die ich immer ein bißchen verblüfft war.

Was machen Sie als nächstes?

Ich habe jetzt in Berlin im Hörspiel den Kant verkörpert. Da war ich gegen mich selber außerordentlich skeptisch. So eine große, skurrile Figur, die muss ich mir ja erstmal erkämpfen. Ich bin beim Impulse-Festival der Freien Theater in der Preisjury und ich habe den Auftrag der Akademie der Künste und der Eysoldt-Stiftung in Bensheim, für die jährliche Verleihung eines Preises den jungen Regisseur zu finden, der dafür in Frage kommt.

Wie entdecken und erkennen Sie einen jungen Künstler?

Das hat viel mit Spüren, Nervlichkeit und auch mit Psychologie zu tun. Dieses Geheimnis eines Menschen, das entdeckt nicht jeder. Ich bin oft gefragt worden: Wie hast Du die alle gefunden? Da müßte ich ein kleines Buch darüber schreiben. Die Intendanten sind überall in Deutschland auf der Suche nach den großen neuen Talenten. Und da sind Leute plötzlich „große Talente“, bevor sie auf Herz und Nieren daraufhin untersucht worden sind. Es gibt viel Brimborium – ich durchschaue das wahrscheinlich leichter als andere, die über eine stilistisch merkwürdige Geschichte entzückt sind. Aber sehr häufig verbirgt sich dahinter nichts weiter als ein bißchen heißer Wind und dann kommt – leere Luft.

Was raten Sie jungen Leuten, die Regisseurin oder Schauspieler werden wollen? Kann man das an einer Schule lernen?

Das weiß ich nicht. Ich habe zu Schulen ja eine ganz schlechte, mißtrauische Beziehung. Es sind ja die Fußkranken des Theaters, die an den Schulen meistens die Lehrer sind, zu viele im Theater Gescheiterte. Da sind immer einige wenige sehr gute Lehrer. An die jungen Regisseure und deren eigene Verfeinerung durch sich selber, an die glaube ich mehr, als an alle Lehrer. Die meisten Hochbegabten sind letzten Endes Autodidakten.

Gilt das auch für Schauspieler?

Ich sage denen: Ihr müßt sehen und schauen. Wie man daran arbeitet, wie man spricht oder stumm ist, Pausen setzt, wie das entsteht. Aber geht nur zu denen, von denen ihr überzeugt seid! Ich liebe es ja, Filme zu sehen. „Die Klavierspielerin“: Was der Haneke da zustande gekriegt hat, das ist wunderbar. Eine höchst neurotische Geschichte, wenn Sie die aber in dem Film sehen, denken Sie, es ist überzeugende Wirklichkeit. Man kann doch an den Maßstäben, die große Kunst setzt, sich selber messen. Dazu sind sehr viele von den jungen Leuten auf den Schulen zu bequem und zu faul. Diese leidenschaftliche Begierde, seine Maßstäbe zu finden an großen Kunstwerken des Theaters oder des Films, ist relativ selten.

1.11.2001 taz Bremen Nr. 6589 Kultur 170 Zeilen, S. 27

Kurt Hübner: Der Möglichmacher

In Kunst, Werner on 27. Oktober 2001 at 10:00

Der ehemalige, im „Kultursenatorium“ nicht gelittene Generalintendant des Bremer Theaters wird 85 Jahre

Am 30. Oktober wird Kurt Hübner 85 Jahre alt. Von 1962 bis 1973 war er Generalintendant am Bremer Theater. Er wird seinen Geburtstag mit vielen seiner Weggefährten im Bremer Theater am Goetheplatz feiern. In gewissem Sinn beehrt er so noch einmal die Stadt, aus der im Jahr 1973 ohne offiziellen Abschied und Dank gejagt wurde: beleidigt, beschimpft und entlassen vom „Kultursenatorium“, wie er die Institution einmal bitter-ironisch nannte.

Mit der Entlassung Hübners endete Bremens, vielleicht sogar Deutschlands bedeutendste Theater-Ära. Für den damaligen Kultursenator Moritz Thape allerdings ein „völlig legaler Vorgang“, hatte Thape, der Hübner und dessen Arbeit nie sonderlich schätzte, doch nur den Vertrag des Intendanten nicht verlängert.

Hübners Verdienste indes sind so vielgestaltig wie seine Talente: Er holte die drei großen Antipoden des deutschen Theaters, Stein, Grüber und Zadek nach Bremen und konfrontierte sie mit Kresnik und Fassbinder, damals noch kreative Nachwuchskräfte. Im „offenen Vorsprechen“ entdeckte er in blutigen Anfängern schon große Schauspieler, etwa Bruno Ganz. Hübner brachte „Antitheater“ und „Living Theatre“, „Off“ und „Off Off“ ins deutsche Stadttheater und schaffte Verbindungen zu Musik, Bildender Kunst und Choreographischem Theater.

Gemeinsam mit Zadek produzierte er hierzulande das erste amerikanische Musical und unterlief, noch in Ulm, den westdeutschen Brecht-Boykott und damit alle Erwartungen und Konventionen der deutschen Bildungsbürger an „ihr“ Theater. Von nun an gehörten ein Offenlegen von Machtstrukturen sowie politisches Opponieren zum Alltag der Bühnen des Bremer Theaters.

„…von der Freiheit eines Theatermenschen“ heißt ein Film über Hübner von Marcus Behrens (heute um 14 Uhr auf N 3). Bremens ehemaliger Bürgermeister Koschnik begeistert sich darin über „Hübners Theater“, ein Theater, das der Gesellschaft einst eine Reihe neuer Anstöße gegeben hat. Zadek schwärmt von einer permanenten Theater-Party. Er kam sich vor wie „fünf Jahre lang auf einem Trip“.

Ästhetisch deutlich vom Bühnenbildner Wilfried Minks geprägt, entstand so unter der Ägide Hübners der berühmte Bremer Stil, in dem sich die Hansestadt bis heute allzugerne sonnt. Geprägt wurde der Begriff von der Zeitschrift „Theater Heute“, die sich am Bremer Geschehen derart interessiert zeigte, dass sie sich dafür flux den Spitznamen „Bremen Heute“ einhandelte. Hübner allerdings spricht lieber von der „Bremer Schule“, „weil da jeder in eine andere Richtung rannte und Zadek sogar in 17 verschiedene“.

Bis heute ist Hübner neugierig, im positiven Sinne „naiv“, immer unterwegs auf der Suche nach Neuem, Abseitigem und Aufregendem. Er unterrichtet Schauspielschüler, regt an, sammelt und sichtet die Szene. Beharrlich hält er Ausschau nach förderungswürdigen Kandidaten und jungen Talenten. Allerdings, die Messlatte liegt hoch: „Wenn ich nicht das Gefühl habe, der ist viel interessanter als ich selber, dann interessiert er mich nicht. Und das war vielleicht das ganze Geheimnis, immer“. Wahrscheinlich.

Der ehemalige Intendant feiert seinen 85. Geburtstag in Bremen. Tags darauf trägt er sich ins Goldene Buch der Hansestadt ein. Sein Lebensmotto nannte er einmal: „Trotzdem!“ Herzlichen Glüchwunsch!

27.10.2001 taz Bremen Nr. 6585 Kultur 48 Zeilen, S. 27

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